Indische Naechte
Tiger auftaucht. Aber selbst, wenn er nicht kommt, werden wir jede Menge Gesellschaft bekommen.« Er ließ sich nieder und lehnte sich ge-gen den Baumstamm, Gewehr und Munition in der Nähe seiner linken Hand. »Da alle Tiere Wasser brauchen, wird gewöhnlich eine Art Waffenstillstand am Wasserloch eingehalten. Tiere, die sonst Feinde sind, ignorieren einander, wenn sie trinken.«
Nach diesen Worten schwiegen beide. Obwohl es Laura niemals in den Sinn gekommen wäre, eine Nacht mit dem Beobachten eines Wasserlochs zu verbringen, fand sie die ständig wechselnde Szene doch höchst interessant. Ein mißtrauischer Schakal, der sich ständig umschaute, erschien an einer Uferseite und schlappte Wasser, während gleichzeitig anmutig getupfte Hirsche, die man Chital nannte, in der Nähe der Köderziege zu trinken begannen. Nach dem Schakal kam eine Gruppe lärmender Rhesusäffchen an den Teich, die sich wie eine Familie benahm, die im Wald picknickt. Sie wurde gefolgt von einem Schwarm Sittiche, die am meisten Krach machten. Einige der Besucher musterten neugierig die Ziege, aber keiner schien wirklich interessiert zu sein.
Doch so faszinierend der Aufmarsch auch war, stellte Laura doch fest, daß Ians Nähe sie ablenkte und verwirrte. Die Plattform hatte Platz für zwei, aber nur gerade eben, und ihre Schultern berührten sich fast. Ihre Sinne schärften sich, bis sie sich fast jeder seiner noch so leichten Bewegungen bewußt war. Während ihr Blick an einem Eisvogel hängenblieb, prickelte ihre Haut in der Wärme seines Körpers und dem Hauch seiner Atmung.
Seit acht Jahren versuchte sie zu vergessen, wie magisch die Berührung eines Mannes sein konnte. Aber Ian erschütterte ihren Entschluß. Sie wollte ihn berühren, ihr Gesicht an seinem Hals vergraben und den Geschmack seiner salzigen Haut aufnehmen.
Ihre Reaktion auf ihn nährte ihre übelsten Ahnungen, was ihr eigenes Wesen betraf. Wenn ihr Begleiter auch nur das geringste Anzeichen von Interesse an ihr gezeigt hätte, wenn nur seine Finger wie beiläufig über ihre Hand gestrichen wären, wenn er sie direkt angelächelt hätte: Sie wäre wie Wachs in der indischen Sonne dahingeschmolzen.
Sie war dem Himmel dankbar, daß Ian von ihrer übersteigerten Phantasie offenbar nichts bemerkte. Sie unterdrückte also mit aller Kraft ihre dumme Sehnsucht und schwor sich, solche Situationen in Zukunft zu vermeiden. Wenn der Major auch ihren bescheidenen Reizen indifferent gegenüberstand, so hätte ein anderer Mann vielleicht anders reagiert.
Die Dämmerung legte sich rasch über das Land, und die Nacht war hereingebrochen, als ein Tiger langsam aus dem Unterholz trat. Im blassen Mondlicht leuchteten seine Streifen blaßgolden. Laura hatte noch nie einen Tiger in freier Natur gesehen, und sie hielt in ehrfürchtigem Staunen vor seiner gefährlichen Schönheit die Luft an.
Doch selbst dieses fast unhörbare Geräusch brachte den massiven Kopf dazu, sich in Richtung des Machan zu drehen. Sie verhielt sich absolut lautlos, bis der Tiger langsam weiterwanderte. Ian hob das Gewehr, schoß aber nicht. Laura fragte sich, wie er bei Nacht den richtigen Tiger herausfinden wollte, erinnerte sich dann aber an seine Auskunft, daß der Menschenfresser eine verletzte Pfote hatte. Dieses Tier hinkte nicht, also mußte es die unschuldige Tigerin sein.
Das Zicklein hatte die Witterung des Raubtiers aufgenommen und stieß einen dünnen Angstschrei aus. Augenblicklich änderte sich der Gang des Tieres, und es pirschte sich vorsichtig heran, wobei der Schwanz zuckte und die Hinterflanken vor gespannter Erregung zu beben begannen. Laura biß sich auf die Lippen, damit sie Ian nicht bat, in die Luft zu schießen, um die Tigerin zu verjagen. Vielleicht hätte sie damit die Ziege gerettet, aber auch den Menschenfresser gewarnt, falls er in der Nähe sein sollte.
Die Ziege wich zurück, so weit der Strick es zuließ, und blökte wieder, und der entsetzte Schrei sandte Laura einen Schauder über den Rücken. Der Laut hatte auch seine Wirkung auf die Tigerin, die augenblicklich ihre Pirschhaltung aufgab. Majestätisch wie eine Königin ging sie zu der Ziege, senkte den Kopf und schnupperte. Einen Moment standen das gewaltige Raubtier und die kleine Ziege sich Nase an Nase gegenüber. Dann schlappte die Tigerin dem Tierchen freundlich mit der riesigen Zunge über den Kopf, was die Ziege zum Taumeln brachte.
Nachdem sie Frieden geschlossen hatten, spazierte die Raubkatze zum Tümpel, trank in
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