Indische Naechte
aller Ruhe und verschwand im Wald. Der Waffenstillstand schien tatsächlich zu funktionieren. Vielleicht hatte die Hilflosigkeit der kleinen Ziege aber auch die Mutterinstinkte der Tigerin geweckt.
Laura warf Ian einen Blick zu, der in diesem Augenblick seinen Kopf zu ihr drehte. Sie sprachen nicht, und sie konnte seine Miene in der Dunkelheit nicht richtig erkennen. Aber Worte waren auch nicht nötig, um zu wissen, daß sie beide das Erstaunen über das, was sie gerade miterlebt hatten, teilten. Und einen kurzen Moment fühlte sie sich ihm emotional genauso nah wie körperlich.
Nachdem die Tigerin fort war, wurde das Wasserloch nicht mehr so frequentiert wie zuvor, und Laura wurde langsam müde. Sie versuchte gerade ein Gähnen zu unterdrücken, als er seine Jacke auszog, sie zu einem provisorischen Kissen zusammenrollte und ihr bedeutete, sich niederzulegen. Er rutschte ein winziges Stück zur Seite, wodurch genug Platz entstand, daß sie sich ausstrecken konnte.
Dankbar nahm sie seinen Vorschlag an. Sie zog die Nadeln aus ihrem Haar und rollte sich, den Kopf auf das Kissen gelegt, auf der Seite zusammen. Laura hatte immer den subtilen Eigengeruch einer Person wahrnehmen können, und Ians Jacke strahlte den seinen aus. Es war ein Duft, der ihr Sicherheit gab, Zufriedenheit...
Sie schwebte in dem dämmrigen Zustand zwischen Wachen und Schlafen, als ihr die Erkenntnis kam: Der Grund, warum sie sich bei Ian so sicher fühlte, war die Tatsache, daß er sie nicht begehrte. Die meisten Männer taten es, und das Wissen ihrer Begierde bereitete ihr Unbehagen. Die Botschaft aber, die der Major ihr vermittelte, hatte viel von dem, was auch ihr Stiefvater ihr gegeben hatte: Freundlichkeit und Schutz.
Da sie so daran gewöhnt war, männliches Verlangen zu erzeugen, war sie zuerst verwirrt gewesen, daß Ian sich nicht für sie interessierte. Aber die Situation war so viel besser: Wenn er sie nicht begehrte, konnten sie ohne Gefahr Freunde sein.
Dieser köstliche Gedanke wiegte sie sanft in den Schlaf.
Ian hielt die ganze Nacht Wache, aber der Menschenfresser kam nicht. Dennoch war das Warten nicht unangenehm. Die Gräser am anderen Ufer des Tümpels wogten sanft wie blasse Seide im Mondlicht, und das leise Geräusch von Lauras Atmung war so entspannend wie Musik. Es gefiel ihm, sie so nah bei sich zu spüren. Er versuchte sich vorzustellen, daß es Georgina war, die dort mit offenem Haar an seinen Oberschenkel gekuschelt lag, aber er konnte ihr Bild in seinem Kopf nicht wirklich klar hervorrufen. Georgina mochte eine ganze Nacht durchtanzen, aber sie würde niemals still und ruhig im Wald ausharren.
In der Dämmerung erwachte Laura und setzte sich auf, wobei sie sich vorsichtig bewegte, um nicht vom Machan zu plumpsen. Ein Sonnenstrahl drang durch die Baumwipfel und traf auf ihr Haar, das in verschwenderischer Pracht über ihre Schultern fiel und einen Bronzeschimmer annahm. Ihre schrägen Augen besaßen die gleiche Farbe, und Ian war einmal mehr an eine Katze erinnert - eine geschmeidige, hübsche Mieze, die Sahne schleckte und auf Seide schlief.
»Ich habe ein interessantes Sortiment schmerzender Muskeln.« Sie gähnte und streckte sich. »Aber ich nehme an, daß der Menschenfresser uns nicht gefordert hat.«
»Leider nein«, antwortete er. »Ich habe Sie ja gewarnt, daß es langweilig werden könnte.«
Zu seinem Bedauern wand sie ein Band um ihr Haar, um es aus dem Gesicht zu halten. »Ich bin trotzdem froh, daß ich mitgegangen bin«, sagte sie. »Es war sehr lehrreich. Und die Ziege muß glücklich sein, daß es nicht noch mehr Aufregung gab. Ein zweiter Tiger wäre sicher nicht so nett mit ihr umgegangen.«
Ian reichte ihr ein Stück des Chapatis, das er eingepackt hatte. Nachdem beide aus Lauras Feldflasche getrunken hatten, kletterte er von der Plattform und half ihr dann herunter. Ihre Taille war schmal und weich, und er genoß die Berührung, auch wenn der begehrliche Aspekt dabei fehlte, der vor Buchara sicher sofort eingetreten wäre. Wenn er nur...
Er verfluchte sich innerlich. Daran zu denken, was hätte sein können, war der sicherste Weg zur tiefsten Verzweiflung. Er band die Ziege los, und sie begannen ihren Weg zurück nach Nanda. Als sie die Felder vor dem Dorf erreichten, hatte die Morgensonne die steifen Muskeln einer Nacht auf der engen Plattform wieder gelockert.
Sie wanderten auf einem breiten, grasbewachsenen Pfad, der die Felder vom Waldrand trennte, als Ian sein Auge mit einer Hand
Weitere Kostenlose Bücher