Indische Naechte
kannst du den Lauf nicht ruhig halten.«
Ihr krampfartiger Griff um die Waffe lockerte sich tatsächlich ein wenig, doch Ian runzelte die Stirn, als er bemerkte, daß ihr ganzer Körper bebte. Mit beruhigender, tiefer Stimme fuhr er fort: »Wir haben keine Eile. Laß dir mit dem Zielen ruhig Zeit.« Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. »Du hast eben beide Augen geschlossen, als du geschossen hast. Versuch einmal, sie offen zu halten. Hast du das Papier im Visier?«
Als sie nickte, schwang der Lauf ein Stück zur Seite. »Schieß erst, wenn du soweit bist. Du drückst ganz langsam ab, nicht am Hahn reißen. Dann bleibt der Lauf ruhig, und du kannst dein Ziel treffen.«
Der Rat war vergeblich. Ihr ganzer Körper krampfte sich zusammen, als sie feuerte, und wieder bohrte sich die Kugel in den Erdwall. Ohne Ian anzusehen, rammte Laura neue Munition hinein und versuchte es erneut, doch das Ergebnis war nicht besser - im Gegenteil. Nach einem weiteren sinnlosen Versuch sagte Ian: »Vielleicht ist das Gewehr zu schwer.« Er zog den Revolver aus dem Halfter. »Versuch’s mal hiermit — das Gewicht ist viel einfacher zu handhaben. Wenn du mit einer kleinen Waffe umgehen kannst, versuchen wir es noch einmal mit dem Gewehr.«
Laura wirbelte mit einem solchen Zorn in ihren Augen herum, daß es ihn nicht gewundert hätte, wenn sie auf ihn geschossen hätte. Doch zum Glück war das Gewehr nicht geladen. So schleuderte sie nur die Waffe zu Boden. »Ich werde das dreckige Ding nicht anrühren«, fauchte sie. »Du kannst mich dazu zwingen, ein Gewehr zu benutzen, aber du wirst mich niemals dazu verleiten, eine Pistole auch nur anzufassen.«
Ihre Reaktion war so gewaltig, daß Ian einen Schritt zurücktaumelte. »Laura, was ist denn?« Er bemühte sich, seine Stimme ruhig und gleichmäßig zu halten, um ihr nicht zu zeigen, wie verstört er war. »Das ist doch nicht bloß eine normale Abneigung gegen Waffen. Warum sträubst du dich so sehr dagegen?«
Als sie sprach, klang es eher wie das Zischen einer wütenden Katze. »Wenn du sehen würdest, wie das Hirn deines Vaters an die Wand spritzt, dann würdest du auch Pistolen hassen.«
»Lieber Gott!« Plötzlich begriff er. »Hat dein Vater Selbstmord begangen?«
»Ja«, antwortete sie steif. Ihre Wut ebbte ab, und ihr Gesicht wurde aschfahl. »Und ich war diejenige, die ihn gefunden hat.«
Der Schock, den sie im Tempel gezeigt hatte, war nichts verglichen mit dem, was nun in ihrem Gesicht zu lesen war. Ian schob hastig seinen Revolver in das Halfter und schlang dann die Arme um seine Frau, um sie wenigstens körperlich vor den Ängsten aus ihrer Vergangenheit abzuschirmen. Er wiegte sie leicht in seinen Armen, und bald liefen ihr die Tränen über die Wangen, als könnte sie nie mehr aufhören. Sie fühlte sich so winzig und zerbrechlich wie ein Strohhalm.
»Verdammt noch mal, wie hat er so etwas tun können? Wie kann sich jemand bloß erschießen, wenn er weiß, daß sein eigenes Kind in der Nähe ist und ihn finden könnte? Wie konnte er das nur tun?« Hätte Lauras Vater sich nicht der irdischen Gerechtigkeit entzogen, hätte Ian ihm liebend gern den Hals umgedreht. Zum Teufel mit romantischen Helden - kein Wunder, daß Tatjana und Laura gerade Kenneth wegen seines sanften, beständigen Temperaments geliebt hatten.
Obwohl seine Worte nicht an Laura gerichtet waren, reagierte sie, indem sie den Kopf hob und ihn verwirrt ansah. »Du bist wütend auf meinen Vater, daß er sich umgebracht hat?«
»Da hast du verdammt recht.« Hilflos wischte er ihr die Tränen von den Wangen und wünschte sich, er könnte mehr tun. »Und das solltest du auch sein. Es ist mir egal, wie verrückt oder traurig oder schwermütig dein Vater war - seiner Familie so etwas anzutun, ist unverzeihlich. Besonders einem Kind gegenüber. Wenn ich das Leben unerträglich finde, dann suche ich mir eine bessere Möglichkeit, mich selbst zu töten - eine, die nicht als solche zu erkennen ist.«
Lauras Augen verengten sich. »Das hört sich an, als hättest du dir selbst schon Gedanken über die Regeln des Selbstmords gemacht.«
»Ja«, sagte er gepreßt. »Und das gibt mir das Recht, jemanden zu verurteilen, der diejenigen, die er liebt, einem solchen Anblick und einem solchen Leiden aussetzt.«
Laura schwieg, doch ihr Gesicht verriet die verschiedenen Emotionen. Endlich sagte sie leicht erstaunt: »Ich bin tatsächlich wütend auf meinen Vater.« Sie ballte die Faust und schlug sie gegen
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