Indische Naechte
Ians Schulter. »Was er Mama und mir angetan hat, war widerlich!« Sie schlug wieder auf ihn ein und schrie plötzlich: »Es war doch nicht meine Schuld. Es war nicht meine Schuld!«
Sie hatte einen anständigen rechten Haken. Ian fing ihre Faust ein, bevor sie noch einmal zuschlagen konnte. »Natürlich war es nicht deine Schuld«, antwortete er ruhig. »Um Himmels willen, warum hast du mir nur noch nichts davon erzählt? Ich hätte dich niemals zu den Schießübungen gedrängt, wenn ich das gewußt hätte.«
»Ich habe es noch nie jemandem gesagt, nicht einmal Kenneth, obwohl Mama es wohl getan hat.« Sie schloß die Augen, und ihr Gesicht verriet die Anstrengung, ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu zwingen. Dann fuhr sie etwas ruhiger fort: »Es war Nachmittag, an einem Samstag kurz vor Ostern. Meine Eltern hatten einen schrecklichen Streit, und Mama stürmte aus dem Zimmer.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Später hörte ich einen Schuß aus dem Arbeitszimmer meines Vaters und rannte hinunter. Zuerst hatte ich Angst, die Tür zu öffnen, aber als ich es dann tat...« Ihre Stimme brach. »Er... er sah so gut aus. Doch seit diesem Tag kann ich sein Bild nicht mehr heraufbeschwören, ohne auch daran zu denken, wie er da ausgesehen hat. Ich schrie. Und ich hörte zwei Tage nicht mehr auf.«
»Hat deine Mutter deswegen beschlossen, Sankt Petersburg zu verlassen?«
Laura nickte. »Sie wollte uns beide aus diesen vielen Erinnerungen herausholen. Und sie hat gut daran getan. Die Reise in ein anderes Land konfrontierte uns mit vielen Dingen, über die wir uns den Kopf zerbrechen konnten.« Erst jetzt bemerkte sie, daß Ian ihre Faust festhielt. »O Himmel, Ian, es tut mir leid«, sagte sie reumütig. »Hab’ ich dich geschlagen?«
»Das hat nichts zu bedeuten.« Er ließ ihre Hand los. »Sollen wir weiterreiten? Von nun an passe ich darauf auf, daß ich nie mehr als ein paar Schritte von dir entfernt bin, bis wir auf dem Schiff nach England sind. Dann wirst du dich nie verteidigen müssen.«
Ihre Augen funkelten. »Nein. Die Lektion ist noch nicht vorbei.« Sie nahm das Gewehr auf und lud wieder nach.
Ian konnte nicht recht glauben, was sie da tat. »Willst du das wirklich?«
Mit entschlossener Miene sagte sie: »Ich werde dieses verdammte Papier treffen, und wenn ich die ganze Nacht dafür brauche.« Sie hob den Lauf und feuerte. Sie traf zwar nicht das Ziel, aber diesmal hielt sie die Augen offen und zog den Hahn weicher und langsamer.
Sie lud erneut und legte an. Mit vorwärts gerichtetem Blick sagte sie: »Wenn ich ihn nicht so geliebt hätte, dann würde ich ihn dafür hassen, was er getan hat.« Das Gewehr krachte. Dieses Mal splitterte Rinde nur wenige Zentimeter vom Ziel entfernt von dem toten Baumstamm ab.
Ian stand neben ihr und sagte nichts bis auf ein paar knappe Anweisungen. Laura handhabte die Waffe mit einer wilden Entschlossenheit, die ihm genauso viel über die Frau, die er geheiratet hatte, verriet, wie ihre peinvollen Tränen kurz zuvor.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Laura endlich das Papier traf. Der Zettel wurde in die Luft gerissen und segelte dann still herab, wobei das Loch in der Mitte deutlich zu sehen war. Erschöpft, aber zufrieden schulterte Laura das Gewehr und wandte sich zu Ian um. Sie stemmte die Hände in die Hüften und blickte ihn an, als sie sagte: »Morgen ist der Revolver dran.«
Er lächelte sie an. »Hat dir schon einmal jemand gesagt, was für eine unglaubliche Frau du bist?«
»Ich bin Russin«, sagte sie scherzend, als wäre diese Tatsache Erklärung genug.
Und vielleicht war es das.
Als sie den Dak am Abend erreichten, ging Laura zu Bett, sobald sie gegessen hatten. Sie war wie ausgelaugt, doch sie bemerkte dennoch, daß Ian seinen Teil der Abmachung einhielt und mehr aß als üblich.
Zuerst schlief sie tief und fest, doch später kehrte der Alptraum wieder. Der Anfang war derselbe wie immer: Sie war Lara, sechs Jahre alt und entsetzt über die unverständliche Wildheit im Benehmen ihrer Eltern. Als sich die Hysterie steigerte, verschob sich der Traum plötzlich um drei Jahre. Sie stand wieder vor dem Arbeitszimmer, voller Angst einzutreten und doch wissend, daß sie keine Wahl hatte. Ihre kleine Hand streckte sich nach dem kalten Messingknopf aus und drehte ihn. Die schwere Tür schwang mit einem Quietschen auf und gab den Blick frei auf den leblosen Körper ihres Vaters, der über dem blutgetränkten Schreibtisch
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