Individuum und Massenschicksal
irgendeine Nation es für gerechtfertigt hielte, die Vernichtung einer anderen in Betracht zu ziehen.
Ihr müßt euch in diesem Zusammenhang klarmachen, daß Hitler glaubte, jede Greueltat sei im Lichte dessen, was er für das einzig Wahre hielt, gerechtfertigt. Auch waren nicht wenige der von ihm vertretenen Ideen längst akzeptiertes Gedankengut auch in anderen Volksgemeinschaften, nur sind sie dort nicht so gründlich in die Tat umgesetzt worden. Die Nationen oder Völker der Welt sahen ihre eigenen schlimmsten Tendenzen in Hitlerdeutschland personifiziert und auf dem Sprung, sie anzugreifen. Die Juden verhielten sich aus verschiedenen Gründen - und noch einmal: dies ist nicht die ganze Geschichte - wie alle Opfer dieser Welt und stimmten mit den Deutschen prinzipiell in ihrer Ansicht über die »Verderbtheit der menschlichen Natur« überein. Zum erstenmal kam der modernen Welt ihre Verletzlichkeit infolge politischen Geschehens zum Bewußtsein, und Technologie und Kommunikation beschleunigten alle Schrecknisse des Krieges. Hitler brachte viele der niederträchtigsten Tendenzen des Menschen zum Vorschein. Zum erstenmal begriff daher die Menschheit, daß Macht nicht gleichbedeutend war mit Recht, und daß genaugenommen ein Weltkrieg keine Sieger im eigentlichen Sinne übrigließ. Es hat nicht viel gefehlt, und Hitler hätte die erste Atombombe der Welt gezündet.
Doch wußte Hitler auf eigentümliche Weise von Anfang an, daß er zum Untergang verurteilt war, und Deutschland ebenfalls, was seine Hoffnungen betraf. Es trieb ihn zur Zerstörung, denn in seinen lichteren Augenblicken erkannte selbst er die grotesken Entstellungen seiner früheren Ideale. Das führte dazu, daß er häufig seine eigenen Bemühungen sabotierte, und mehreren bedeutenden Siegen der Alliierten lag solche Sabotage zugrunde. Aus ebendiesen Gründen kam es auch nicht zur Bereitstellung der Atombombe in Deutschland.
Doch jetzt kommen wir zu Hiroshima, wo die erste vernichtende Bombe gezündet wurde (am 6. August 1945) - und aus welchem Grunde?
Um Leben zu retten, um das Leben von Amerikanern zu retten. Gewiß war es eine »gute« Absicht, Amerikanern das Leben zu retten - diesmal auf Kosten der Japaner. In dieser Hinsicht war das Heil Amerikas das Unheil Japans, und ein Akt »zur Rettung von Menschenleben« hatte die Vernichtung von Menschenleben zur Voraussetzung.
(22.27 Uhr.) Welchen Preis hat »das Gute« - und welche Idee des Guten soll als Kriterium dienen? Das menschliche Streben nach dem Guten führte auch zur Inquisition und zu den Hexenjagden von Salem.
Politisch denken heute viele, daß die Sowjetunion »der Feind« und daß daher jedes Mittel recht wäre, diesen Feind zu zerstören. Manche Menschen in den Vereinigten Staaten glauben, daß »das Establishment«
durch und durch korrupt und daher jedes Mittel recht wäre, es zu zerstören. Manche glauben auch, daß Homosexuelle und Lesbierinnen »
entartet« seien, es ihnen an menschlichem Wert fehle und daß sie daher keine Achtung verdienen. All dies sind Werturteile aufgrund eurer Glaubensüberzeugungen von dem, was gut und wahr sei. (Pause.) Nur sehr wenige Menschen legen es von Anfang an darauf an, so schlecht und gemein wie möglich zu sein. Zumindest haben zum Beispiel (bitte in Sperrschrift) manche Kriminelle das Gefühl, daß sie, indem sie stehlen oder töten, nur die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft wieder ausgleichen. Ich will damit nicht sagen, daß dies ihr einziges Motiv sei, aber auf die eine oder andere Weise gelingt es ihre Handlungen vor sich selbst zu rechtfertigen, indem sie darin ihre eigene Version dessen, was gut und recht sei, erblicken.
Ihr müßt euch klarmachen, daß Fanatiker immer grandios übersteigerte Ideen hegen, während sie zugleich an die sündige Natur des Menschen und die Machtlosigkeit des Individuums glauben. Sie können dem Ausdruck des Selbst nicht vertrauen, da sie von seiner Verschlagenheit überzeugt sind. So erscheinen ihnen ihre Ideale noch unerreichbarer. Fanatiker rufen andere zu sozialem Handeln auf. Da sie nicht glauben, daß der einzelne etwas auszurichten vermag, sind ihre Gruppierungen nicht Zusammenschlüsse privater Einzelmenschen, die sich auf der Grundlage der Vernunft zusammenfinden, um auf individuelle Weise ihren sozialen Beitrag zu leisten; vielmehr sind es Zusammenschlüsse von Menschen, die sich davor fürchten, ihre Individualität zu behaupten, und die hoffen, sie in der Gruppe zu finden oder aber eine Art
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