Individuum und Massenschicksal
Absicht zu dienen«, die über persönliche Anliegen hinausreicht. Ein solches Massensterben hat also zum Teil den Zweck, die Überlebenden dahin zubringen, die Lebensbedingungen in Frage zu stellen, denn unbewußt weiß die Menschheit sehr wohl, daß es Gründe für ein solches Massensterben gibt, die jenseits der landläufigen Auffassungen liegen.
Es gab Zeiten und Zivilisationen, in denen die Not der Armen so furchtbar, so unerträglich war, daß die Pest ausbrach und diese die weitgehende Zerstörung der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Zustände zur Folge hatte. Die Pest raffte arm und reich gleichermaßen dahin, so daß die Besitzenden aus ihrer Selbstzufriedenheit aufgerüttelt und daran erinnert wurden, daß auch den Armen ein Mindestmaß an menschenwürdigem Leben und Wohlbefinden an Leib und Seele eingeräumt werden mußte, denn ihre Unzufriedenheit hatte drastische Folgen für jedermann. Ihr Sterben war ein einziger Protest *.
Für sich gesehen war jedes Todesopfer ein »Opfer« von Apathie, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, wodurch automatisch die Abwehrkräfte des Körpers verringert wurden. Doch derartige Gemütszustände verringern nicht nur die Widerstandskräfte, sie beschleunigen und verändern auch die chemischen Abläufe im Körper, beeinträchtigen deren Ausgewogenheit und bereiten den Boden für Krankheiten vor. Zahlreiche Viren, die ihrem Wesen nach todbringend sein können, tragen unter normalen Bedingungen zur Gesundheit des Körpers bei, indem sie gewissermaßen Seite an Seite mit anderen Viren existieren, wobei jedes auf seine Weise dazu beiträgt, das Gleichgewicht des Organismus aufrechtzuerhalten.
Wenn jedoch infolge destruktiver Gemütszustände bestimmte Viren zu verstärkter Aktivität angeregt oder diese überproduziert werden, dann werden sie »tödlich«. Auf der Körperebene können sie in der für den jeweiligen Stamm charakteristischen Weise weitergegeben werden. So wuchern hinlänglich schwerwiegende individuelle seelische Probleme buchstäblich zu Seuchen aus, von denen ganze Teile der Gesellschaft erfaßt werden. (Lange Pause.)
Das Umfeld, in dem eine Epidemie ausbricht, gibt Aufschlüsse
* Nach landläufiger Auffassung wurden (und werden noch immer) die Erreger verschiedenster Seuchen, wie zum Beispiel der Beulenpest, des berüchtigten »
Schwarzen Todes«, durch Flöhe von infizierten Ratten auf den Menschen übertragen. Andere Nager übertragen andere Seuchen. In Seths Sichtweise ist es die tiefe Unzufriedenheit der Menschen, die - so komplex ist das System wechselseitiger Beeinflussung und Einwirkung sämtlicher Lebensformen -
periodisch große Seuchen wie beispielsweise die Pest mit ausgelöst hat. Zum Beispiel sollen im Rom des dritten Jahrhunderts täglich mehrere tausend Menschen gestorben sein. Es gibt Schätzungen, wonach während eines Zeitraums von zwanzig Jahren drei Viertel der Bevölkerung Europas und Asiens zugrunde gingen; es gab die Große Pest im London des Jahres 1665, und so fort.
über die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umstände, die zum Ausbruch einer Seuche geführt haben. Oft geht derartigen Ausbrüchen ein fehlgeschlagener Versuch, die bestehenden politischen oder sozialen Verhältnisse zu ändern, voraus - das heißt, die Seuchen brechen aus, nachdem eine Protestbewegung geeinigter Massen gescheitert ist oder als aussichtslos empfunden wurde. In Kriegszeiten treten sie oft in Gruppen einer Bevölkerung auf, die den Krieg, in den ihr Land verwickelt ist, ablehnen.
Am Anfang steht die psychische Ansteckung: Verzweiflung breitet sich rascher aus als eine Moskitoplage oder irgendein Krankheitserreger.
Die seelische Verfassung aktiviert ein Virus, das eigentlich passiv ist.
(Pause um 22.16 Uhr.)
Verzweiflung mag zwar den Eindruck von Passivität erwecken, weil sie alles äußere Handeln als vergeblich empfindet - doch ihre Feuerbrände wüten im Innern, und eine Ansteckung solcher Art springt über von Bett zu Bett und von Herz zu Herz. Doch sie befällt nur diejenigen, die in der gleichen Verfassung sind; dessenungeachtet setzt sie so gewissermaßen eine Lawine in Gang, einen Prozeß der Beschleunigung, der im Verhalten ganzer Bevölkerungsgruppen zum Ausdruck kommen kann.
Glaubt ihr nun, daß es nur ein einziges Leben gibt, dann müssen solche Konsequenzen natürlich als in höchstem Maße unheilvoll erscheinen; und nach euren Begriffen sind sie ja auch wirklich alles andere als erfreulich. Aber wiewohl
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