Individuum und Massenschicksal
die in Entscheidungsnöten sind. So jammert eine solche Schreiberin zum Beispiel. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, welche Laufbahn ich einschlagen soll. Ich könnte die Musik zu meinem Beruf machen, da ich musikalisch begabt bin.
Andererseits (Pause) fühle ich mich zur Psychologie hingezogen. In letzter Zeit habe ich meine Musik vernachlässigt, weil ich so verwirrt bin.
Manchmal denke ich auch, ich könnte Lehrerin werden. Mittlerweile meditiere ich und hoffe, daß die Antwort kommen wird.« (Pause.) Ein solcher Mensch kann seinen Impulsen nicht genügend vertrauen, um danach zu handeln. Es bleibt bei lauter dem Gewicht nach gleichen Wahrscheinlichkeiten. Die Meditation muß vom Handeln gefolgt werden
- und wahre Meditation (bitte in Sperrschrift) ist Handeln. Solche Menschen fürchten sich, Entscheidungen zu treffen, weil sie ihre eigenen Impulse fürchten - und einige von ihnen können durch falsch angelegte Meditation ihre Impulse abstumpfen und konstruktives Handeln geradezu unterbinden.
(21.35 Uhr.) Impulse äußern sich in natürlicher, spontaner, konstruktiver Entsprechung zu den Fähigkeiten, Potentialen und Bedürfnissen der Persönlichkeit. Es sind richtungweisende Kräfte.
Glücklicherweise haben Kinder im allgemeinen zu gehen gelernt, bevor man ihnen beibringen kann, ihre Handlungsimpulse seien etwas Schlechtes. Und glücklicherweise sind die natürlichen Impulse des Kindes, zu forschen, zu wachsen, Erfüllung zu suchen, zu handeln und Macht auszuüben, stark genug, daß sie ihm als das nötige Sprungbrett dienen, bevor noch eure Glaubenssysteme sein Selbstvertrauen zu untergraben beginnen. Ihr habt, da ihr erwachsen seid, den Körper von Erwachsenen. Doch das Muster für jeden Erwachsenenkörper war bereits im Fetus angelegt - der allerdings glücklicherweise den von seinen Impulsen ausgehenden Richtlinien folgte.
(Mit milder Ironie:) Niemand sagte ihm, daß es unmöglich sei, aus einer winzigen Zelle zu wachsen, diese zu einem winzigen Organismus umzuwandeln - und schließlich zu dem komplizierten Wunderwerk eines Erwachsenenkörpers. Was für winzige, spindeldürre, fadenartige, schwache Beinchen ihr alle einmal im Mutterschoß hattet! Jetzt ersteigen diese Beine Berge und schreiten Boulevards entlang, einfach (sehr eindringlich und gefühlsbetont) weil sie formbildenden Impulsen folgten!
Selbst die Atome und Moleküle eurer Beine wählten sich ihre günstigsten Wahrscheinlichkeiten aus. Ja, diese Atome und Moleküle trafen in einem Sinne, den ihr nicht verstehen könnt, ihre eigenen Entscheidungen insofern, als sie all den zündenden Funken der Handlungsimpulse folgten, die jeglichem Bewußtsein - ganz gleich, wie hoch oder gering ihr es in eurem Denken bewertet - innewohnen.
Bewußtsein ist darauf angelegt, seiner eigenen idealen Entfaltung entgegenzuwachsen, die zugleich der idealen Entfaltung all der Organisationen dient, an denen es beteiligt ist.
Wir kommen also wieder auf das Thema des Ideals und seiner Verwirklichung zurück. Wann und wie wirken sich unsere Handlungsimpulse auf die Welt aus? Worin besteht eigentlich das Ideal, von dem hier die Rede ist, und wie kommt es, daß eure tatsächliche Erfahrung diesem Ideal so wenig zu entsprechen scheint, daß sie euch als schlecht vorkommt?
Ende des Kapitels, und geduldet euch einen Moment.
9
Das Individuum und Ideale,
Religion, Wissenschaft und Recht
Fortsetzung der Sitzung 860, Mittwoch, den 13. Juni 1979
(Nach einer Pause um 21.45 Uhr:) »Das Individuum und Ideale, Religion, Wissenschaft und Recht« - das ist die Überschrift für unser nächstes Kapitel, das neunte.
Was ist das Recht? Warum habt ihr ein Recht?
(»Recht oder Gesetze?«)
Warum habt ihr Gesetze? Beginnen wir damit. Sind Gesetze dazu da, Leben zu schützen, Eigentum zu schützen, Ordnung zu schaffen, Gesetzesbrecher zu bestrafen? Werden Gesetze geschaffen, um den Menschen vor seiner eigenen Niedertracht und Gemeinheit zu schützen?
Kurzum, sind Gesetze dazu da, den Menschen vor seiner grundsätzlich verbrecherischen und sündigen Natur und vor seinem so oft verleumdeten Selbst zu schützen? (Pause.) Wenn ihr »vollkommene Geschöpfe« wäret, würdet ihr dann überhaupt Gesetze brauchen? Definieren die Gesetze das, was unannehmbar ist, oder verweisen sie auf irgendwelche undifferenzierte, kaum wahrgenommene positiveren Aspekte? Sind Gesetze ein Versuch, Handlungsimpulsen Grenzen zu setzen? Sind sie Ausdruck der gesamtgesellschaftlichen Definitionen
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