Individuum und Massenschicksal
»Heroics« wird es nicht darum gehen, wie man irgendein verstiegenes Überselbst erreicht, sondern um die Hemmnisse, die der praktischen Selbstverwirklichung im Wege stehen.
Und in dieser alten Lyrik ging es um solche Hemmnisse. »Du kannst dein heroisches Selbst nicht finden, wenn du dem Selbst nicht vertraust, das du hast«, sagte sie zu mir. »Seth hat uns aufgefordert auf negative Glaubensüberzeugungen zu achten - und plötzlich finde ich mich allenthalben von meinen eigenen umstellt. Und all diese Überzeugungen stehen dem Vertrauen in meine Impulse im Wege. Endlich sehe ich, worauf das Buch abzielt. Ich werde diese Glaubensüberzeugungen für mich und für alle, die dieses Buch lesen, durcharbeiten.« - Beginn der Sitzung um 21.14 Uhr.)
Diktat.
Noch einmal: Man hat euch beigebracht, daß Impulse etwas Verdächtiges sind, Botschaften eines dubiosen Unterbewußtseins, in denen dunkle Anwandlungen und Begierden zum Ausdruck kommen.
Zum Beispiel: Viele von euch schenken der grundlegenden Freudschen These Glauben, der zufolge der Sohn von Natur aus den Vater aus der Liebe der Mutter zu verdrängen trachtet und sich unter der Sohnesliebe für den Vater der mörderische Todeswunsch regt. Das ist abstrus!
Ruburt hat eigene, vor Jahren geschriebene Lyrik gelesen und war entsetzt, Überzeugungen ähnlichen Inhalts in seinen eigenen Schriften zu begegnen. Ehe unsere Sitzungen begannen, folgte er der herrschenden Denkweise, und obgleich ihn deren Grundsätze zum Widerspruch reizten, fand er keine bessere Lösung. Das Selbst in all seiner spektakulären Lebendigkeit war, wie es schien, nur mit Vernunft begabt, um die unabänderliche Tatsache seines eigenen sicheren Untergangs zu erkennen. Eine solche Tragödie auf die lebende Persönlichkeit zu projizieren - welch ein Verhängnis!
Doch werdet ihr zu einer wahren Psychologie erst dann finden, wenn ihr das Selbst in größerem Zusammenhang seht - größer seine Motive, seine Zielsetzungen, seine Bedeutung -, als ihr ihm jetzt zugesteht oder als ihr der Natur und ihren Geschöpfen zugesteht. Viele Handlungsimpulse habt ihr einfach abgewehrt, und andere habt ihr so programmiert, daß sie nur im vorgeschriebenen Rahmen zum Ausdruck kommen dürfen. Solange jemand von euch noch der Freudschen oder Darwinschen Interpretation des Selbst Glauben schenkt, so lange wird er etwaigen Impulsen, sein eigenes Innere zu erforschen, mit Argwohn begegnen, und zwar aus Angst vor dem mörderischen Chaos, das er da möglicherweise aufdecken würde. Das meine ich nicht nur hypothetisch.
Zum Beispiel erinnere ich an die Frau, die kürzlich Ruburts Rat erbat. Sie machte sich Sorgen wegen ihres Übergewichts und war deprimiert über ihren, wie sie meinte, Mangel an Disziplin beim Befolgen der Diätvorschriften. Sie hatte einen Psychologen aufgesucht, der ihr sagte, möglicherweise spiele ihre Ehe bei diesem Problem eine Rolle. Die Frau erzählte, daß sie seitdem nicht mehr zu ihm gegangen sei aus Angst, verborgene Impulse, etwa ihren Mann umzubringen oder der Ehe ein Ende zu setzen, in sich zu entdecken; jedenfalls war sie sicher, daß hinter ihrem Gewichtsproblem verhängnisvolle Impulse lauerten. (Pause.) In Wirklichkeit steckte hinter ihrem Problem ein primärer Impuls ganz anderer Art: mit ihrem Mann ins Gespräch zu kommen, ihn um deutliche Zeichen seiner Liebe zu bitten. Warum liebte er sie nicht so sehr, wie sie ihn liebte? Sie konnte sagen, das liege an ihrem Übergewicht, denn schließlich ließ er es an abfälligen Bemerkungen über ihre Körperfülle nicht fehlen - wobei er sich freilich weniger freundlich ausdrückte.
Er konnte seiner Liebe für sie nicht in der Weise Ausdruck geben, nach der sie sich sehnte, da er glaubte, daß Frauen dem Mann die Freiheit rauben, wenn man sie gewähren läßt, und er interpretierte das natürliche Liebesbedürfnis seiner Frau als lästige emotionale Zumutung. Beide glaubten an die Minderwertigkeit der Frau und folgten, ohne es zu wissen, einem der Freudschen Dogmen.
(21.35 Uhr.) Die besprochenen Überzeugungen sind also innig mit eurem Leben verwoben. Der erwähnte Mann verschließt sich seinen Impulsen; meist nimmt er sie, wenn sie ihn zum Ausdruck von Zuneigung oder Liebe zu seiner Frau drängen, nicht einmal wahr.
In Bereichen, in denen ihr eure Impulse abwehrt, bringt ihr euch um Wahrscheinlichkeiten und versäumt es, neue sinnvolle Verhaltensweisen zu entwickeln, die euch ganz von selbst aus euren Schwierigkeiten herausführen würden.
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