Individuum und Massenschicksal
Materialfülle sortierte, die Seth-Jane in den letzten Wochen produziert hat, wurde ich wieder einmal von Staunen ergriffen angesichts der Herausforderungen, die der Kunst des Schreibens innewohnen.
Das gemalte Bild kann in jedem Moment seiner Entstehung mit einem Blick erfaßt werden, die Wahrnehmung des geschriebenen Wortes jedoch erfordert viel mehr Zeit, ganz gleich, wie schnell man zu lesen und zu verstehen vermag.
Mit einem einzigen Blick hat der bildende Künstler einen unmittelbaren Zugriff auf das gesamte in Arbeit befindliche Werk; er kann sagen, was er getan und noch zu tun hat, was er vielleicht noch abändern oder »in Ordnung bringen«
muß, selbst wenn es ihm nicht gelingt. Nicht so der Schriftsteller, der sich, während er liest, des bildenden Künstlers simultaner Wahrnehmung zugunsten linearer Wahrnehmung begeben muß, während er eine Vielzahl von Entscheidungen trifft im Hinblick auf die Satzstruktur, auf das, was er verwenden und was er auslassen will, und so weiter.
Manchmal kommt der Maler in mir dem Schriftsteller visuell zu Hilfe, indem ich Seiten mit Material und Notizen nebeneinander auf ein bis zwei Tischen auslege. Dann kann ich sehen, was ich als Ganzes zu machen versuche, und kann teils intuitiv, teils verstandesmäßig Entscheidungen treffen hinsichtlich der Anordnung von Passagen, die mir Schwierigkeiten bereiten. Bei diesem Vorgehen fühle ich mich allemal sowohl angeregt als auch herausgefordert. Es scheint immer zu funktionieren, obwohl ich manchmal noch ziemlich viel Zeit brauche. Diese Methode ist auch sehr hilfreich, um jener anfänglichen Ungeduld des Malers in mir zu begegnen, wenn sich der Schriftsteller in mir einer komplizierten Situation gegenübersieht.
Natürlich kenne ich die derzeitigen Theorien der Wissenschaft über die mutmaßliche unterschiedliche Funktion der beiden Gehirnhälften: für logische Aktivitäten wie auch das Schreiben soll die linke Hälfte zuständig sein, für intuitive künstlerische Fähigkeiten die rechte. Mag sein - aber schließlich kann Schreiben ebenfalls auf Intuition beruhen und Kunst demgegenüber auf logische Weise produziert werden. Wenigstens muß dem Gehirn als Ganzem (seine beiden Hälften sind im Innersten durch das Corpus callosum miteinander verbunden) ein grundlegendes schöpferisches Vermögen innewohnen. Die beiden Hemisphären dürften viel stärker zusammenwirken, als gemeinhin angenommen wird. Es gibt so vieles, was wir über das Gehirn noch nicht wissen (von Geist und Seele ganz zu schweigen). Vermutlich verstellen uns Glaubenssätze hinsichtlich solcher Abgrenzungen den Blick auf das wunderbare ganzheitliche Funktionieren unseres Gehirns.
»Aber Seth liefert allem Anschein nach sein Material verbal, und das ist alles«, schrieb Jane, nachdem sie diese Fußnote gelesen hatte. »Selbst in einem langen Buch geht er nicht durch diese kognitiven Prozesse, die Rob erwähnt.
Ich tue das, wenn ich schreibe oder meine Arbeit korrigiere. Falls ich irgend etwas von jener Arbeit als Seth tue, dann geschieht das so unbewußt und rasch, daß ich dessen nicht gewahr bin. Und Seths Texte erfordern fast keinerlei Abänderungen.«
* Ich möchte Sie daran erinnern, daß Jane bereits Inspiration und Material für zwei Bücher aus ihrem erstaunlich schöpferischen Traumzustand empfangen hat: für » The Education of Oversoul Seven« und »James«. Für »Seven« kamen ihr zum Beispiel zwei ganze Kapitel, während sie träumte.
Jane hatte den ganzen September hindurch an »James« gearbeitet, danach schrieb sie eine Zusammenfassung des Buches, so daß ihr Herausgeber, Tam Mossman, es seinem Verlag, der Prentice-Hall, empfehlen konnte. Am 12. September hatte Jane einen sehr lebhaften Traum, der, wie sie glaubt, seinen Ursprung in einem ihrer vergangenen Leben in der Türkei hat. In ihrem Traum kam ein Knabe vor, Prinz Emir
*, der in einer taufrischen Welt lebte, in der es noch keinen Tod gab. Drei Tage später schlug Tam gelegentlich eines Telefongesprächs vor, Jane solle auf der Grundlage ihres Traums von Emir ein Kinderbuch »für Leser jeden Alters« schreiben. Am nächsten Tage rief er nochmals an, diesmal, um ihr die überaus erfreuliche Mitteilung zu machen, daß der Verlag »James« Veröffentlichung angenommen hatte.
Dann kam in einer persönlichen Sitzung am Abend des 17.
September 1977 Seth mit einem faszinierenden Konzept durch: »
Bezugssystem 1 und Bezugssystem 2«. Jane und ich waren von den praktischen, weitreichenden
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