Individuum und Massenschicksal
durch die Weihnachtsmusik und die Schaufensterauslagen, durch die religiösen Hinweise darauf, daß der Mensch als Ebenbild Gottes erschaffen wurde, und durch wieder andere Hinweise darauf, daß dieser gottgegebene Körper - allem Anschein nach außerstande, für sich selbst zu sorgen - von Natur aus dazu bestimmt ist, ein Opfer von Unheil und Krankheit zu werden.
So ist die Weihnachtszeit in eurer Gesellschaft Ausdruck der Hoffnungen des Menschen, während die Grippesaison seine Ängste widerspiegelt und die Kluft zwischen beiden zum Vorschein bringt.
Der Arzt ist ja auch Privatperson; hier spreche ich von ihm nur in seiner professionellen Eigenschaft: Für gewöhnlich tut er sein Bestes innerhalb des Systems der Glaubensüberzeugungen, die er mit seinen Mitmenschen teilt. Diese Glaubensüberzeugungen existieren nicht isoliert für sich, sondern sie stellen natürlich eine Verquickung von Glaubenssätzen wissenschaftlicher und religiöser Art dar, wie sehr sich diese auch voneinander unterscheiden mögen.
Die christliche Tradition deutet Krankheit als Strafe Gottes oder zumindest als gottgesandte Prüfung, die es standhaft zu ertragen gilt; sie betrachtet den Menschen als sündige Kreatur, behaftet mit dem Makel der Erbsünde und gezwungen, im Schweiße seines Angesichts zu arbeiten.
Das wissenschaftliche Weltbild zeigte den Menschen als Zufallsprodukt eines gleichgültigen Universums, als eine Kreatur ohne jede tiefere Bedeutung, deren Bewußtsein Produkt eines bloß zufällig entstandenen physiologischen Mechanismus der Evolution ist, außerhalb dessen ihm keine Wirklichkeit eignet. Die Wissenschaft ist in dieser Hinsicht wenigstens konsequent. Das Christentum jedoch fordert die zum Leiden geborenen Geschöpfe ex officio dazu auf, sich zu freuen, und die Sünder, zu kindlicher Unschuld zurückzufinden; es fordert sie auf, einen Gott zu lieben, der eines Tages die Welt zerstören und sie in die Hölle verdammen wird, wenn sie ihm nicht Ehre erweisen.
Aufgerieben zwischen zwei derart widersprüchlichen Glaubenssystemen werden viele Menschen gerade in der Weihnachtszeit körperlich krank. Kirchen und Spitäler sind meistens die größten Gebäude einer Stadt, wie auch die einzigen, die den Menschen ohne amtliche Bewilligung auch am Sonntag offenstehen. Ihr könnt eure Gesundheit nicht von eurem persönlichen Wertsystem trennen, und häufig genug profitieren die Spitäler von den Schuldgefühlen, welche die Religionen ihren Bekennern eingeflößt haben.
Ich spreche jetzt von Formen der Religion, die derart mit dem gesellschaftlichen Leben verquickt sind, daß jeder Sinn für die grundlegende religiöse Integrität verlorengeht. Der Mensch ist von Natur aus religiös.
Macht Pause. (22.40 bis 23.10 Uhr.)
Diktat: Das religiöse Empfinden ist eine der grundlegenden Eigenschaften des Menschen. Es ist der am meisten außer acht gelassene Bereich der menschlichen Psyche. Es gibt ein natürliches religiöses Wissen, mit dem wir geboren werden. Ruburts Buch » The Afterdeath Journal of an American Philosopher: The World View Of William James
« erläutert dieses Gefühl sehr anschaulich. Es ist eine in verbale Begriffe übersetzte biologische Spiritualität, die da spricht: »Das Leben ist ein Geschenk. Ich bin ein einzigartiges, der Achtung wertes Geschöpf in der natürlichen Welt, die mich umgibt, mir meinen Lebensunterhalt gewährt und mich an die größere Quelle gemahnt, der ich selbst und die Welt entstammen. Mein Körper ist seiner Umwelt wunderbar angepaßt, und auch er kommt mir zu aus jener unbekannten Quelle, die sich in allen Erscheinungen der materiellen Welt offenbart.«
Dieses Gefühl schenkt dem Organismus Zuversicht, Freude und die unablässig überquellende Kraft zum Wachstum. Es fördert Wißbegier und Kreativität und stellt das Individuum in eine Welt, die gleichermaßen spirituell und natürlich ist.
Organisierte Religionen stellen allemal den Versuch dar, dieses Grundgefühl in kulturellen Begriffen neu zu definieren. Es gelingt ihnen selten, weil sie in ihren Vorstellungen zu eng und zu dogmatisch werden, bis die kulturellen Strukturen die feinere, in ihnen enthaltene Substanz schließlich ganz überwiegen.
Je toleranter eine Religion ist, desto näher kommt sie dem Ausdruck jener inneren Wahrheiten. Dem Individuum jedoch eignet seine eigene spirituelle und biologische Integrität, die Teil des menschlichen Erbes und das Recht jeglicher Kreatur ist. Der Mensch kann nicht seiner eigenen
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