Ines oeffnet die Tuer
die sie so lange gearbeitet hatte? Dass Karol sich in sie verliebte oder zumindest fragte, ob sie mit ihm ausgehen wolle? Dass ihre Mutter nicht immer so traurig war? Dass ihre Brüste schneller wuchsen, wie bei den anderen Mädchen in der Klasse? Oder â¦
»Es ist gar nicht so leicht, was?« Agnes zwinkerte ihr zu. »Ich wusste am Anfang auch nicht, was ich mir wünschen sollte. Oft habe ich mir nur Unsinn ausgedacht, kleine Sachen ⦠zum Beispiel etwas Leckeres zu essen.«
»Ein Stück Sahnetorte!«, rief Ines. »Darf ich mir ein Stück Sahnetorte wünschen?«
»Das brauchst du gar nicht, Schatz. Ich habe Torte für uns gekauft. Du kriegst ein riesiges Stück, wenn wir zu Hause sind.«
»Und wenn ich mir das Kleid wünsche, das Miranda Kersh in ihrem neuen Videoclip trägt?« Ines kamen nun doch ein paar Ideen. »Oder die Schuhe, die Sonja und ich neulich im Kaufhaus anprobiert haben â¦Â«
»Schuhe habe ich mir auch mal gewünscht.« Agnes schmunzelte. »Da war ich Mitte zwanzig, eine junge Frau ⦠es ist eine Ewigkeit her. Ich wollte in Paris mit einem Mann ausgehen, einem Künstler. Er war Italiener und hatte die feurigsten Augen, die ich je gesehen habe.« Sie seufzte. »Er lud mich zu einem Ball ein. Ich wollte natürlich die Schönste sein. Also wünschte ich mir Schuhe, passend zu meinem Abendkleid. Ich fand im Zimmer ein Paar hochhackiger Samtschuhe mit Silberschnallen, die wie Schmetterlinge aussahen. Die Schuhe passten wie angegossen, und bei jedem Schritt schienen die Schmetterlinge mit den Flügeln zu schlagen. Sie lenkten alle Blicke auf meine FüÃe. Ich sah umwerfend aus beim Tanzen ⦠ach, was für ein Abend.« Agnesâ alte Augen glitzerten. »Auf dem Nachhauseweg hat mein Verehrer mich auf einer Brücke über der Seine geküsst ⦠Ich war so verliebt, Ines! Und die silbernen Schmetterlinge der Schuhe flatterten genauso wild wie mein Herz.«
Ines seufzte, so romantisch war diese Geschichte.
»Als mich der hübsche Italiener zu stürmisch küsste«, fuhr Agnes fort, »und ich ihn ein wenig von mir schob, glitt der rechte Schuh von meinem Fuà und fiel durch einen Spalt in der Steinbrüstung in den Fluss â platsch! Er versank. Ich habe mich furchtbar erschrocken ⦠aber dann musste ich lachen. Ich kam mir vor wie Aschenputtel, mit dem einen verbliebenen Schuh am FuÃ.«
»Dann konntest du aber nicht beide Schuhe in das Zimmer zurückbringen«, stellte Ines fest.
»Nein, aber es war das einzige Mal, das ich gegen diese Regel verstoÃen habe. Sie ist wichtig, Ines. Alle Gegenstände, die du dem Zimmer entnimmst, sind geliehen. Sie gehören nicht in unsere Welt, sondern in das Refugium.«
Ines lauschte mit groÃen Augen.
»Das Refugium«, fuhr Agnes fort, »so nennt man diesen rätselhaften Raum. Du kannst ihn an jeden Ort der Welt mitnehmen, er wird immer für dich offen stehen. Du kannst in ihm Schutz suchen, wenn du in Gefahr bist, oder die Stunden darin verbringen, wenn dir langweilig ist. Er wird dich begleiten und dir deine Wünsche erfüllen ⦠solange du dich an vier Regeln hältst.«
Ines konnte noch immer kaum glauben, was Agnes da erzählte. Aber sie wollte unbedingt alles über das Refugium wissen.
»Wie lauten die vier Regeln?«
»Eine kennst du ja schon: Was du dem Zimmer entnimmst, musst du zurückbringen. Lass dir nicht zu viel Zeit damit. AuÃerhalb des Refugiums entwickeln diese Gegenstände ein Eigenleben und können gefährlich werden, wenn sie zu lange in unserer Welt verweilen. Mehr als einen Tag, höchstens zwei solltest du nicht verstreichen lassen. Die zweite Regel beschränkt die Zeit, die du im Zimmer verbringen darfst. Dir ist bestimmt die Uhr auf der Kommode aufgefallen.«
»Die seufzende Uhr, die immer falsch geht?«
»Sie geht nicht falsch, sondern zeigt die Stunden an, die du im Refugium verbringst. Wenn du es betrittst, stehen die Zeiger auf null und rücken unerbittlich vor. Du musst nämlich eins wissen: Die Zeit im Refugium verstreicht rascher als in der restlichen Welt. Verbringst du in ihm vier oder fünf Stunden, vergeht drauÃen mitunter nur eine einzige oder eine halbe â so genau weià man das nie. Kehrst du nach acht oder zehn Stunden zurück, sind drauÃen vielleicht nur ein paar Minuten verstrichen.«
»Aber das
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