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Ines oeffnet die Tuer

Ines oeffnet die Tuer

Titel: Ines oeffnet die Tuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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gezeigt.«
    Ines erinnerte sich an alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen einer hageren Frau mit hellen Haaren, schmalem Mund und Grübchen in den Wangen. Agnes war ihre einzige Tochter. Während des Kriegs hatte Clara sie allein großgezogen und durch diese furchtbare Zeit gebracht. Sie musste wie Agnes eine starke und besondere Frau gewesen sein.
    Â»Das Zimmer gehörte Clara und davor ihrer Mutter Luise. Es ist schon lange im Besitz unserer Familie. Meine Mutter hat es mir vererbt. Sie zeigte mir, wie ich es betreten kann, und überließ es mir kurz vor ihrem Tod.« Agnes nahm ihre Hände, und Ines spürte, wie die Wärme der altersfleckigen Finger in ihre überging. »Es ist ein Geheimnis der Frauen unserer Familie. Niemand weiß davon, nicht einmal dein Vater oder dein Onkel. Ich habe meinen Söhnen das Zimmer nie gezeigt. Ich wusste, dass es für jemand anderen bestimmt ist. Für dich, Ines.«
    Â»Für … mich?«
    In ihrem Rücken brach die Musik jäh ab. Nur das Knacken der Schallplatte war zu hören, das Kratzen des Tonabnehmers in der letzten Rille.
    Â»Schon als du geboren wurdest, ahnte ich, dass der Raum einmal dir gehören wird«, sagte Agnes. »Wie recht ich doch damit hatte. Du hast die Tür allein entdeckt, Ines. Du hast sie geöffnet und das Zimmer betreten, ohne meine Hilfe. Es ist fast so, als hätte es dich auserwählt.«
    Â»Das macht mir aber Angst«, flüsterte Ines. »Das Zimmer hat mich bis in meine Schule verfolgt …«
    Â»Es hat dich gesucht«, korrigierte Agnes. »Weil es dir gehören will. Mich hat es lange genug begleitet. Nun bin ich eine alte Frau, und die Zeit ist reif, es an dich weiterzureichen. Es gehört nun dir, Ines.«
    Â»Aber was soll ich mit einem Zimmer? Wozu ist es gut?«
    Agnes deutete auf das Grammofon. »Nun, es erfüllt Wünsche. Wenn du dir etwas ersehnst, was du nicht hast, wirst du es bei deinem nächsten Besuch hier finden. So, wie ich noch einmal die Schallplatte meiner lieben Freundin Lucie Paulette hören wollte. Ich wünschte es mir, und als ich das Zimmer betrat, wurde mir mein Wunsch erfüllt.«
    Agnes schritt zur Kommode, wendete die Schallplatte und setzte den Tonabnehmer wieder auf. Erneut erklang die glühende Stimme der Chansonsängerin.
    Â»Ich kann mir alles wünschen?«, staunte Ines. »Das ist doch gar nicht möglich.«
    Â»Nicht alles«, schränkte Agnes ein. »Das Zimmer wird keinen Wunsch erfüllen, der einer niederträchtigen Sache dient. Keinen, um jemanden zu verletzen oder zu demütigen. Keinen, um jemandem zu schaden. Und es erfüllt Wünsche nicht dauerhaft, sondern nur für eine gewisse Zeit.«
    Â»Dann wird die Schallplatte wieder verschwinden, wenn wir den Raum verlassen?«, fragte Ines.
    Ihre Oma nickte.
    Â»Und wenn ich mir das Grammofon schnappe und es aus dem Zimmer trage?«
    Agnes blickte ihre Enkeltochter ernst an. »Ja, das könntest du tun – für eine gewisse Zeit. Aber behalten dürftest du die Schallplatte nicht. Alles, was du dem Zimmer entnimmst, musst du zurückbringen. Das ist eine der vier Regeln, die du auf keinen Fall verletzten darfst.«
    Â»Was für Regeln?«
    Â»Regeln gibt es immer im Leben. Dieser Raum ist sehr mächtig … man darf ihn nicht missbrauchen. Gehe weise mit seiner Macht um. Wünsche dir niemals zu viel, Ines, bleibe bescheiden. Dann wird das Zimmer dir ein glückliches Leben bescheren, so wie mir. Ansonsten bringt es Unheil.«
    Agnes sagte dies mit einer Inbrunst, die Ines Schauer über den Rücken jagte. Für einen Augenblick flackerte die Lampe an der Decke, die Chansonmusik klang dumpfer und der Vorhang am Fenster blähte sich wie ein Segel.
    Es war, als hätte der Raum dem Gespräch gelauscht und wollte Agnes’ Worte bestätigen.

9.
    Â»Gibt es etwas, das du dir mehr wünschst als alles andere?«, fragte Agnes.
    Wieder waren sie am Grauweiher. Ines hatte sich bei Agnes untergehakt, und gemeinsam folgten sie dem Pfad am Ufer. Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten. Ihre Strahlen spiegelten sich auf der Wasseroberfläche und zeichneten die Linien nach, die den treibenden Blesshühnern folgten.
    Â»Mehr als alles andere …« Ines wiederholte die Worte ihrer Großmutter und dachte nach. Ja, was wünschte sie sich mehr alles andere? Dass sie ihre Eins in Mathe bekam, für

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