Ines oeffnet die Tuer
den wichtigsten Gebäuden der Welt. Ines hatte solche Bücher schon oft gesehen, in Museumsshops oder Büchereien, und mit Ehrfurcht darin geblättert. Zu gerne hätte sie ein solches Buch besessen, aber der Blick auf das Preisschild hatte sie stets abgeschreckt â von ihrem Taschengeld würde sie sich das nie leisten können, und sich von den Eltern etwas so Teures zu wünschen, hatte sie nicht gewagt.
Nun hielt sie ein Buch in den Händen, das wertvoller und interessanter war als alles, was sie bisher gesehen hatte.
Schon auf den ersten Seiten fand Ines Abbildungen der Bauwerke, die sie in London bestaunt hatte: vom Gherkin, dem eiförmigen Glaspalast in der City, dessen Fenster nachts so geheimnisvoll leuchteten; vom Lloydâs Building mit seinen silbernen Fahrstuhlschächten; von der Millenium Bridge über der Themse mit ihrem federnden Geländer. Die Bilder waren gestochen scharf, die Farben brillant, und auf den Skizzen daneben wurde die Bauweise und Statik der Gebäude erklärt. Davon verstand Ines relativ wenig, auch wenn die kleinen Striche, Winkel und Zahlen sie faszinierten. Sie verströmten fast etwas Magisches.
Sie konnte ihre Blicke kaum von dem Buch abwenden. SchlieÃlich hob sie es von der Kommode â es war höllisch schwer â und nahm im Sessel Platz, um es sich beim Lesen gemütlich zu machen. Der panthergleiche Bezug fühlte sich weich und warm an. Er schmiegte sich an ihren Körper und gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit.
Ines vertiefte sich in das Buch. Es waren nicht nur Gebäude aus London abgebildet, auch aus Paris, New York, Tokyo, Dubai ⦠Wolkenkratzer, Türme und Museen, von denen sie nie gehört hatte, die aber sehr eindrucksvoll wirkten. Sie konnte sich nicht daran sattsehen.
Und je mehr sie blätterte, desto deutlicher spürte Ines, dass dies kein gewöhnliches Buch war. Die Fotos waren zu echt ⦠ihre Blicke wurden hineingesogen. Manchmal glaubte sie sogar, selbst vor einem Gebäude zu stehen und den von der Sonne erwärmten Zement zu riechen, oder sie fühlte sich von den Strahlen, die sich in den Glasfenstern spiegelten, geblendet. Auch den Skizzen und Bauplänen wohnte etwas Merkwürdiges inne. Sobald Ines sie betrachtete, verstand sie nach kurzem Nachdenken, wie die Gebäude errichtet worden waren, was sie im Gleichgewicht hielt, in welcher Proportion die Wände und Stützbalken zueinander standen â es war, als flüsterte das Buch ihr seine Geheimnisse zu, als teilte es mit Ines sein Wissen, das eigentlich viel zu groà für sie war.
Ãber ihrem Kopf flackerten die Glühbirnen, und die Uhr auf der Kommode seufzte.
Eine Stunde war Ines nun schon im Refugium und sie konnte sich von dem Buch nicht losreiÃen. Ihr Kopf glühte, ihre Augen huschten über die Bilder und Zeilen, ihre Finger flogen zwischen den Seiten umher â¦
Erst als sich die Tür öffnete, schreckte Ines auf.
»Hier kommt deine Wunschfee«, hörte sie die Stimme ihrer Oma, »mit einem Stück Sahnetorte.«
Agnes balancierte ein Tablett auf den Händen mit einem Tässchen Tee und einem extragroÃen Stück Torte. Sie stellte es auf ein Tischchen neben dem Sessel und warf einen Blick zur Uhr.
»Eine Stunde bist du schon hier«, stellte sie fest. »Für mich waren es kaum zehn Minuten. Verrückt, nicht wahr?«
Ines wurde bei diesem Gedanken ganz mulmig. Sie legte das Buch beiseite und schnappte sich den Teller. »Ja, verrückt. Wie kann es sein, dass die Zeit im Refugium so viel schneller abläuft?«
Darauf hatte Agnes keine Antwort.
Ines nahm eine Gabel voll von der Torte. Die Sahne schmeckte herrlich und süÃ.
»Müsste man nicht schneller altern, wenn man zu viel Zeit im Refugium verbringt?«, dachte sie laut.
»Tja, du siehst an mir, dass dem nicht so ist«, schmunzelte Agnes. »Es ist geschenkte Lebenszeit. Ich glaube sogar, dass man im Refugium langsamer altert. Meine Mutter ist auf jeden Fall über neunzig geworden und war immer kerngesund. Solange du dich an die Regeln hältst und nicht länger als dreiundzwanzig Stunden â¦Â«
»Jaja, ich weië, sagte Ines. »Die dritte Regel. Ãbrigens hast du am Weiher vergessen, mir die vierte zu verraten. Es waren doch vier Regeln, oder?«
Agnes ordnete ihr graues Haar auf den Schultern. »Du hast recht, die letzte habe ich ausgelassen. Komm, ich zeige dir
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