Ines oeffnet die Tuer
hieÃe ja, dass man im Refugium Zeit dazugewinnt«, überlegte Ines laut.
»So ist es. Aber nicht unbegrenzt. Du darfst nie mehr als dreiundzwanzig Stunden im Zimmer verbringen. Achte auf die Uhr. Wenn ihre Zeiger zum zweiten Mal auf die Elf vorrücken, musst du das Refugium verlassen. Sonst reiÃen die Zeitlinien auseinander und spielen verrückt. Dreiundzwanzig Stunden, Ines, vergiss das nie.«
»Bist du einmal länger im Zimmer gewesen, Oma?«
Agnes zögerte. »Als ich ein Kind war ⦠im Krieg, als die Bomben fielen ⦠da hat meine Mutter mich einmal für drei Tage in das Refugium geschickt. Ich musste ausharren, bis sie mich herausholte. Aber es war ein furchtbares Erlebnis ⦠schreckliche Dinge sind dort geschehen. Ich möchte dir das ersparen.«
Ines spürte wieder einen Schauer. »Ich weià gar nicht, ob ich das Refugium wirklich haben möchte.«
»Solange du dich an die Regeln hältst, droht keine Gefahr«, beruhigte Agnes sie. »Komm, wir gehen zu den Stegen. Heute können wir uns in Ruhe die Reuse ansehen, ohne dass deine Mutter dazwischenfunkt.«
Sie näherten sich dem Holzsteg, der auf den Grauweiher hinausführte. Agnes wagte den ersten Schritt auf die Bretter. Sie knarzten unter ihren rostbraunen Stiefeln, und das Geländer des Stegs schwankte.
Das würde Julian gefallen, dachte Ines, als sie ihrer Oma folgte. Er klettert so gerne überall herum und denkt sich dazu Geschichten aus.
Vorsichtig schritten sie auf den Bohlen voran, bis sie nur noch von Schilf und Wasser umgeben waren.
»Dort liegt sie.« Agnes deutete auf einen klobigen Gegenstand am Ende des Stegs. Es war eine Art Holzkäfig, marode und mit Algen überwachsen, die in der Sonne getrocknet waren. Die Reuse sah uralt aus, wie aus einer anderen Zeit.
Ines beugte sich über sie, bis die Spitzen ihrer braunen Haare die Holzstäbe berührten.
»Mit so etwas kann man Fische fangen?«
»Ja. Sie verirren sich in eine Ãffnung, die immer schmaler wird, und finden nicht mehr heraus. Am Abend zieht der Fischer sie an Land und dann gibt es gebratene Forelle.« Agnes lachte. »Der Käfig muss hundert Jahre alt sein. Vielleicht hat der Fischer, der ihn im Weiher versenkte, sogar in meinem Haus gelebt. Wer weià â¦Â«
»Hat GroÃvater nicht auch Fische gefangen?«, fragte Ines, die sich wieder an die alten Fotos erinnerte.
»Gregor war ein Draufgänger, aber er hatte auch seine stillen Seiten. Das Angeln gehörte dazu. Er konnte stundenlang am Weiher stehen und darauf warten, dass ein Fisch anbeiÃt. Ich habe nie verstanden, was daran so spannend sein soll. Ich glaube, er brauchte die Zeit, um nachzudenken â über mich verrücktes Huhn und meine Geheimnisse.«
»Hast du ihm das Refugium nie gezeigt?«
»Nein, nie. Gregor war mir der liebste Mensch auf der Welt, aber ich konnte es ihm nicht sagen. Denn dies ist die dritte Regel, Ines: Du darfst keinen anderen Menschen in das Refugium bringen. Du darfst es niemandem zeigen und niemanden wissen lassen, dass du es besitzt.«
»Warum nicht?«
Agnes stützte sich müde auf das Geländer des Stegs. »Wer einmal im Refugium gewesen ist, kann dorthin zurückkehren. Er kann sogar andere in das Zimmer führen ⦠und das darf nicht geschehen. Ein Raum, der solche Macht in sich birgt, muss ein Geheimnis bleiben. Ein Geheimnis zwischen uns beiden, Ines.« Sie blickte ihre Enkelin ernst an. »Ich weiÃ, es klingt nach einer Bürde. In gewisser Weise ist es das auch â das Refugium bürdet dir eine Verantwortung auf und du wirst lernen müssen, mit ihr umzugehen und die Regeln zu beachten ⦠besser, als ich es vermochte. Aber du bist kein Kind mehr. Bald wirst du vierzehn, Ines. Ein gutes Alter, um das Refugium zu bekommen.«
Ihr alten Hände schlossen sich um das Holzgeländer. Dieses knackte plötzlich und schwankte. Agnes lieà es los und trat einen Schritt zurück.
»Hoppla, deine Mutter hatte vielleicht recht mit dem Steg. Er ist nicht mehr zuverlässig.« Ihr faltiges Gesicht glänzte in der tief stehenden Sonne wie Kupfer. »So schnell bringt man sich in Gefahr.«
Ja, dachte Ines. Eben denkt man noch, man steht mit beiden FüÃen fest auf dem Boden, und dann bekommt man plötzlich ein Zimmer geschenkt, das Wünsche erfüllt und einem Schaden zufügt, wenn man sich nicht an seine
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