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Ines oeffnet die Tuer

Ines oeffnet die Tuer

Titel: Ines oeffnet die Tuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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Auf der Hälfte der Treppe bemerkte sie, dass sie schlich, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollte.
    Agnes war nicht im Wohnzimmer. Der Esstisch war für Tee und Kuchen gedeckt. Über einem Stövchen dampfte eine Kanne Tee. Das Chanson war nun deutlich zu hören. Es musste eine alte Aufnahme sein, die Stimme der französischen Sängerin klang theatralisch, und ein Rauschen und Knacken untermalte ihren Gesang.
    Die Musik kam aus dem Flur.
    Â»Oma?«, rief Ines noch einmal und spähte um die Ecke.
    Der Flur lag im Halbdunkel. Das einzige Licht drang aus der offen stehenden Tür in seiner Mitte … der Tür, der Ines nun schon zum dritten Mal begegnete. Sie war exakt an der Stelle, an der Ines sie zum ersten Mal gesehen hatte, nur stand sie diesmal eben offen. Das spitze Ende des Widderhorngriffs war genau auf Ines gerichtet.
    Ines war weder erstaunt noch erschrocken. Sie betrat das geheimnisvolle Zimmer, ohne mit der Wimper zu zucken.
    Â»Da bist du ja, Herzchen!«, begrüßte eine Stimme sie.
    Agnes saß im Sessel. Ihre Hände hatte sie auf den Armlehnen abgelegt, das graue Haar floss offen über den pantherschwarzen Bezug, und die angewinkelten Beine ruhten auf einem türkischen Kissen. An der getäfelten Decke glomm der Lampenschirm, und auf der Kommode – gleich neben der silbernen Uhr – stand ein Grammofon mit oezanblauem Trichter. Aus ihm erschallte das Chanson, das Ines die ganze Zeit gehört hatte. Die Schallplatte drehte sich mit leichtem Eiern auf dem Plattenteller.
    Â»Schön, dass du endlich da bist. Ich hoffe, die Fahrt war nicht langweilig?«
    Ines ließ ihren Schulranzen zu Boden gleiten und beobachtete den funkelnden Tonabnehmer, der in den Rillen der Schallplatte auf und nieder hüpfte.
    Â»Wer singt da?«
    Â»Eine Frau namens Lucie Paulette. Sie war eine gute Freundin von mir, in Paris. Die beste Sängerin des Varietés. Wenn sie sang und dabei ihre nussbraunen Locken wippen ließ, flogen ihr alle Männerherzen zu … ja, Lucie war wundervoll. Ich hatte sie sehr gern.«
    Ines lauschte der Musik, die ihr fremd und altmodisch vorkam. Aber die Stimme hatte etwas Faszinierendes – kratzig, zugleich aber hell und glühend, wie sie es selten gehört hatte.
    Â»Was wurde aus ihr?«
    Â»Sie lebt nicht mehr, leider. Lucie starb aus Enttäuschung darüber, dass ihre Musik nicht erfolgreich war. Ihre Schallplatten kennt heute niemand mehr, man kann sie nirgends kaufen.« Agnes strich zärtlich über die Armlehnen des Sessels. Die Pantherhaare stellten sich auf wie das Fell einer Katze. »Heute wäre ihr Geburtstag gewesen. Deshalb wollte ich ihre Stimme hören und habe mir ihre Musik gewünscht.«
    Jetzt verstand Ines überhaupt nichts mehr. »Gewünscht? Wieso denn das? Du hast doch ihre Schallplatte …«
    Â»Eben nicht. Gregor hat sie weggegeben. Er mochte Lucies Musik nicht und meinte, sie würde mich nur traurig machen.« Die Erinnerung zauberte ein Lächeln auf Agnes’ faltiges Gesicht. »Dein Großvater wollte mich immer vor allem Unheil der Welt beschützen. Dabei war er selbst ein Draufgänger …«
    Â»Oma, du schweifst ab!«
    Â»Richtig, die Schallplatte. Nun ja – ich wollte sie heute wieder hören und habe sie mir gewünscht.« Agnes deutete auf das Grammofon. »Und da ist sie!«
    Ines versuchte sich einen Reim darauf zu machen. »Du hast dir die Schallplatte gewünscht? So, wie man sich im Radio einen Song wünscht?«
    Â»Ja, so ungefähr.« Agnes erhob sich. »Es gibt einiges, was ich dir über dieses Zimmer erzählen muss. Es ist kein gewöhnlicher Raum, das hast du ja längst bemerkt … ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
    Auf der Kommode seufzte die silberne Uhr, und der Stundenzeiger kroch einen Strich weiter, auf die Zehn, obwohl es eigentlich erst halb drei am Nachmittag war.
    Â»Das Zimmer begleitet mich schon mein ganzes Leben«, fuhr Agnes fort. »Ich war vier oder fünf, glaube ich, als ich es zum ersten Mal betrat. Meine Mutter nahm mich an die Hand und führte mich durch die Tür. Das Zimmer kam mir damals riesig und unheimlich vor, so wie dir. Ich brauchte eine Weile, um mich in ihm wohlzufühlen.«
    Â»Deine Mutter hat es dir gezeigt?« Ines rückte dicht an Agnes heran.
    Â»Ja, deine Uroma, Clara Katharina. Ich habe dir sicher einmal Fotos von ihr

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