Ines oeffnet die Tuer
sie Glück. Agnes meldete sich am anderen Ende, auch wenn die Verbindung schlecht war und es in der Leitung knackte.
»Wer spricht?«
Ines war so aufgeregt, dass sie gleich losplauderte.
»Oma, ich muss dir etwas erzählen! Du glaubst nicht, was ich heute in der Schule gesehen habe.« Ines senkte die Stimme. »Die Tür aus deinem Flur ⦠du weiÃt schon, die, nach der ich gefragt habe.«
Agnes sagte keinen Ton. Das Knistern in der Leitung wurde lauter.
»Wie kommt diese Tür in meine Schule? Und was ist das für ein Raum, in den sie führt? Er war darin so ⦠merkwürdig.«
»Du bist hineingegangen?«, fragte Agnes.
»Ja natürlich. Ich habe mir alles angesehen, den Sessel, die Uhr, den Vorhang ⦠aber ich verstehe es nicht. Habe ich das geträumt? Bin ich verrückt?«
»Du bist nicht verrückt«, beruhigte Agnes sie. »Und du brauchst auch keine Angst zu haben Der Raum ist nicht gefährlich. Es war nur eine Frage der Zeit, bis du ihn entdeckst. Ich habe nie daran gezweifelt. Und ich bin stolz auf dich. Nicht jedes Mädchen in deinem Alter hätte den Mut gehabt, hineinzugehen.«
Ines spürte, wie sich in ihren Augen Tränen bildeten. »Was ist das für ein Raum? Wo kommt er her? Es muss doch eine Erklärung geben â¦Â«
»Am besten wäre es, wenn du mich besuchst. Dann reden wir über alles.«
»Geht nicht. Mama und Papa wollen am nächsten Wochenende etwas anderes unternehmen.«
»Dann komm allein«, schlug Agnes vor. »Du bist alt genug, um mit dem Zug zu fahren. Die Fahrt bezahle ich. Wie wäre es am Mittwochnachmittag?«
Das erlauben mir Carmen und Veith nie im Leben, dachte Ines.
»Ich ⦠ich werde es versuchen, Oma.«
»Das ist ein Wort! Ich sage dir, wo du umsteigen musst. Es wird bestimmt nett werden. Endlich verbringen wir zwei mal einen ganzen Nachmittag zusammen. Ich werde dir einiges zeigen, von dem du noch nicht einmal etwas ahnst.«
Bevor Ines etwas erwidern konnte, legte sie auf und man hörte nur noch das rätselhafte Knistern in der Telefonleitung.
8.
Der Bus klapperte und ächzte, als er von der LandstraÃe abbog. Bei jeder Unebenheit wurde Ines fast vom Sitz geschleudert. Sie hockte hinten auf der Viererreihe, spähte durch die verschmutzten Scheiben auf die Wiesen und Felder und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Polstern herum. Diese Fahrt wollte und wollte einfach nicht enden.
Wenn ich nur nicht so aufgeregt wäre, dachte sie.
Gleich nach der Schule hatte sie sich am Bahnhof ein Ticket gekauft. Nach einer Stunde Fahrt mit dem Zug hatte sie umsteigen müssen. Nun saà sie in einem alten Bus und kurvte über die Dörfer, auf dem Weg zu Oma Agnes. Ihren Eltern hatte sie weisgemacht, den Nachmittag bei Sonja zu verbringen â die wahrscheinlich gröÃte Schwindelei ihres bisherigen Lebens. Allein mit dem Zug wegzufahren, ohne es vorher den Eltern zu sagen â¦
Was sollâs, dachte Ines. Ich bin kein Kleinkind mehr.
Durch die Scheibe sah sie das gelbe Ortsschild. Na endlich! Ines rutschte vom Sitz, griff nach dem Rucksack und stellte sich an die hintere Bustür. AuÃer ihr bewegten sich noch zwei ältere Damen zum Ausgang. Sie trugen Strickjacken und graue Hüte auf den Köpfen, die wie eingedrückte Igel aussahen. Sie waren bestimmt um Jahre jünger als Oma Agnes, aber ihre mürrischen Gesichter lieÃen sie alt erscheinen. Beide sahen das fremde Mädchen mit hochgezogenen Augenbrauen an, so als fragten sie sich, was Ines hier auf dem Land zu suchen hatte.
Der Bus hielt vor der kleinen Ziegelsteinkirche und dem Dorfbrunnen. Ines sprang auf das Pflaster, schulterte den Rucksack und folgte der Gasse zum Grauweiher. Ein Hund bellte aus einem Vorgarten und sie hörte Gänsegeschnatter. Die Sonne am Himmel wärmte ihre Nasenspitze. Es war ein schöner Tag, der wärmste seit Langem.
Vor ihr, gleich am Seeufer, tauchte das Haus auf, mit seinen rostbraunen Giebeln und den pastellfarben gestrichenen Fensterkreuzen. Die Esche am Eingang trug bereits ihre letzten Blüten, die im Sonnenlicht schimmerten.
Ines eilte die Stufen zur Eingangstür empor. Sie war nur angelehnt. Ines drückte sie auf und blieb im Flur stehen.
»Oma?«
Aus dem oberen Stockwerk drang leise Musik, ein französisches Chanson. Ansonsten war es totenstill im Haus.
Ines stieg die Stufen zum Wohnzimmer empor.
Weitere Kostenlose Bücher