Ines oeffnet die Tuer
Agnes es ihr versprochen hatte.
11.
»Sechs Kugeln?« Ines sah mit groÃen Augen zu Sonja hinüber, die sich an der Glastheke der Eisdiele die Nase platt drückte. »Ãbertreibst du nicht ein wenig?«
»Wieso?« Sonja taxierte die Eissorten hinter dem Glas mit wachsender Vorfreude. »Das habe ich mir ja wohl verdient! Eine Drei plus in Mathe ⦠wenn ich das meinen Eltern erzähle!«
Am Morgen hatten sie die Mathearbeit zurückbekommen â und in der Klasse hatte Heulen und Zähneklappern geherrscht. So viele Vieren und Fünfen hatte es lange nicht gegeben. Frau Wunder hatte mit groÃer Genugtuung die Hefte ausgeteilt und den Schülern doppelzüngig Trost gespendet. Nur zu Ines und Sonja hatte sie keinen Ton gesagt, sondern sie nur mit einem vielsagenden Blick durch ihre randlose Brillle bedacht.
Ines hatte einen Moment gezögert und den Atem angehalten, bevor sie ihr Heft aufgeschlagen hatte. Eine Eins minus! Mit dunkelroter Tinte aufs Papier gekritzelt. Darunter, etwas kleiner, ein Kommentar von Frau Wunder:
Glück gehabt, Ines.
Und bei Sonja, die dank Abschreiben eine gute Drei bekommen hatte:
Beim nächsten Mal: kein Pardon!
»Die konnte eben nichts beweisen«, hatte sich Sonja gefreut. »Du, das müssen wir feiern! Wie wäre es mit einer Riesenportion Eis heute Nachmittag? Einer Riesenportion für Matheriesen!«
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Eigentlich hatte Ines den Nachmittag im Refugium verbringen wollen. Seit Tagen machte sie nichts anderes. Die Tür war ja nicht umsonst in der Wand ihres Zimmers. Sie brauchte nur hinüberzugehen, die Widderhornklinke herunterzudrücken â schon stand sie in dem Raum, den Agnes ihr geschenkt hatte, und konnte Stunde um Stunde mit dem Buch auf dem Schoà im Sessel verweilen, der ihr jedes Mal bequemer vorkam. Selbst das Seufzen der Uhr war ihr allmählich vertraut. Sie achtete aber darauf, nicht länger als drei Stunden im Refugium zu bleiben. Wenn sie es verlieÃ, waren »drauÃen« meist nur ein paar Minuten verstrichen, manchmal auch eine halbe Stunde. Es war erstaunlich, wie unterschiedlich die Zeit innerhalb und auÃerhalb des Refugiums verlief.
An diesem Nachmittag verzichtete Ines auf ihre Lektüre. Eisessen mit Sonja war eine gute Alternative, sie hatten das lange nicht gemacht. Auch wenn Sonne wieder einmal übertrieb.
»Melone, Waldbeere, Zitrone, Marille und zweimal Kirsch-Orange«, bestellte sie einen fürstlichen Eisbecher. »Mit Mandeltopping ⦠ade, du schönes Taschengeld.« Sie stupste Ines in die Seite. »Na komm, schlag zu. Ich lade dich ein.«
Ines bezweifelte, dass Sonja ihre Portion schaffen würde. Sie selbst beschränkte sich auf vier Kugeln â Vanille, Zartbitter, Pfefferminz und Erdbeer-Krokant â und war trotzdem erschrocken, als die Bedienung den Eisbecher brachte. Die Kugeln waren gigantisch! Und schmeckten göttlich.
»Was meinst du, wie lange die Wunder nach einem Fehler gesucht hat?«, rätselte Sonja, während sie mit dem Löffel ein gefrorenes Marillenstück aus dem Eis pulte. »Stell dir ihr Gesicht vor, als sie raffte, dass sie nichts in der Hand hat. Hach, wenn es das als Foto gäbe, würde ich es mir an die Wand pinnen!«
»Das war verdammtes Glück«, mahnte Ines. »Beim nächsten Mal wird sie achtgeben wie ein SchieÃhund. Du musst wirklich anfangen zu lernen, Sonja. Die Drei rettet dir das Schuljahr nicht.«
Sonja strich ihre blonden Locken zurück. »Mathe ist eben nicht mein Ding. Braucht eh kein Mensch, wenn du mich fragst. Rechnen macht mich wirr im Kopf.«
»Noch wirrer?« Ines grinste.
Sonja drohte mit dem Eislöffel. »Pass bloà auf ⦠dafür bin ich in Englisch und Sport besser als du. Und dünner!«
»Aber nicht mehr lange, wenn du so viel Eis futterst. Dann wirst du so fett wie ein Walross.«
Sie zogen sich noch eine Weile gegenseitig auf, während Sonja ihr ganzes Eis verputzte. Am Ende saÃen sie in andächtigem Schweigen nebeneinander und hielten sich die Bäuche.
Es war ein perfekter Nachmittag.
Ines merkte wieder, wie wichtig ihr die Freundschaft zu Sonja war. Auch wenn sie so unterschiedlich waren wie Katz und Maus: Ines nachdenklich und ernst, Sonne unbeschwert und albern. Und doch hingen sie zusammen wie Kletten. In der Schule verbrachten sie jede Sekunde miteinander, trafen sich an den Nachmittagen, gingen ins Schwimmbad
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