Ines oeffnet die Tuer
ihr herübergekommen war â¦
Ob er doch was von mir will?, dachte Ines. Nein, Quatsch. Er hat mich ignoriert und mit Sonne geflirtet. Und diese blöde Ziege macht auch noch mit. Dabei behauptet sie immer, sie will nichts von ihm.
Sie fühlte sich entsetzlich.
Wenn er nun doch was mit dieser hübschen Russin hat? Gegen die habe ich keine Chance. Schon wie die sich anzieht â¦
Ines ging in Gedanken ihren Kleiderschrank durch. Eigentlich brauchte sie dringend neue Klamotten. Carmen hatte lange nicht mehr mit ihr eingekauft, obwohl das eines der wenigen Dinge war, die Ines gern mit ihr machte. Carmen verstand eine Menge von Mode, sie hatte einen guten Blick für hübsche Kleider. Sie war selbst immer schick angezogen und sehr groÃzügig, wenn ein T-Shirt oder ein Rock für Ines mal teurer war.
Ines legte die Zeitschrift weg und lauschte. Aus dem Wohnzimmer drang Carmens Stimme. Sie machte gerade ihre Sprechübungen: einen anhaltenden Ton, dessen Lautstärke an- und abschwoll, einen knallenden Laut mit den Lippen, »ph â ph â ph«, schlieÃlich eine Art leisen, spitzen Schrei ⦠und alles wieder von vorn. Sie übte schon seit einer halben Stunde. Ines hörte es schon gar nicht mehr, sie war die Geräusche gewohnt.
Fast zwei Jahre war es her, seit Carmen ihr Engagement an der Oper verloren hatte. Angefangen hatte alles mit einem Streit zwischen ihr und Ines. Sie hatten sich über etwas Unwichtiges gezankt und plötzlich war Carmen die Stimme weggeblieben. Sie hatte den Mund auf- und zugeklappt wie ein Nussknacker, aber es war nur ein Krächzen herausgekommen.
Der Arzt hatte dann die Knötchen auf Carmens Stimmbändern entdeckt. »Dass Ihnen das nicht früher aufgefallen ist«, hatte er gesagt. »Es muss doch wehgetan haben beim Singen.« Für zwei Monate hatte er ihr alle Auftritte verboten. Dadurch hatte Carmen eine wichtige Rolle abgeben müssen. Schlimmer noch: Die Knötchen waren nicht weggegangen. Sogar an eine Operation hatte sie gedacht, sich am Ende aber nicht getraut, da die Erfolgsaussichten schlecht gewesen waren.
Seitdem hatte sich alles verändert. Mit dem Verlust des Engagements war Carmen in ein Loch gefallen. Sie hatte an nichts mehr Freude, verkroch sich zu Hause und beachtete Julian und Ines kaum noch. Alles, was Ines an ihrer Mutter bewundert hatte â ihre Leidenschaft für die Musik, ihre Unternehmungslust, ihre Ausgelassenheit nach einem Auftritt â, war unter einer Schicht aus Traurigkeit verschwunden, die niemand durchdringen konnte. Nicht Veith, nicht Julian und Ines schon gar nicht.
Ich wünschte, es wäre wie früher, dachte Ines, als es Carmen noch gut ging.
Sie warf einen Blick auf die Tür des Refugiums.
»Das kannst du mir wahrscheinlich nicht erfüllen, hm? Dass Mamas Stimmbänder in Ordnung kommen? Was kannst du überhaupt?«
Sie erschrak über die eigene Stimme und glaubte zu spüren, dass die Tür jedes ihrer Worte aufnahm. Ines fragte sich, was das Refugium daraus machen würde.
Ich muss Agnes anrufen, dachte sie. Ich habe so viele Fragen an sie.
Sie kramte ihr Handy hervor und wählte Agnesâ Nummer. Aber ihre Oma hob nicht ab, obwohl Ines es lange klingeln lieÃ.
»Mit wem telefonierst du?«
Ines fuhr herum. Julian schaute durch den Türspalt herein.
»Wie oft habe ich dir gesagt, dass du anklopfen sollst!«, schnauzte sie und lieà ihr Handy sinken. »Was willst du?«
»Mir ist langweilig! Darf ich zu dir auf die Couch?«
Ines warf einen Blick zur Wand â auf das Poster von Johnny Depp. Die Tür war verschwunden.
Irgendwie unheimlich, dachte sie. Wo mag das Refugium jetzt sein? Wieder bei Agnes?
»Komm rein«, grummelte sie dann. »Aber wehe, du nervst!«
Freudestrahlend schloss Julian die Tür und setzte sich neben sie.
»Eigentlich wollte ich ein Hörspiel hören. Aber Mama macht die ganze Zeit Krach. Bei dem Gezischel versteht man kein Wort.«
»Sie wird irgendwann aufhören«, tröstete ihn Ines. »Warum gehst du nicht raus zum Spielen? Oder fragst Papa, ob er was mit dir macht?«
»Der ist beim Nachbarn. Wollte sich ein Buch ausleihen. Na ja, jetzt ist er schon zwei Stunden weg.«
Ihr Vater war ganz schön häufig bei Herrn zu Hausen, fand Ines. Sie hatte den Verdacht, dass Veith nur seiner Frau aus dem Weg gehen wollte. Vielleicht, weil Carmens Traurigkeit ihn ratlos
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