Ines oeffnet die Tuer
polterte der alte Herr.
Ihr linker Fuà war schon drauÃen. Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. Sein altes Gesicht war käsebleich.
»Tu das nicht, Ines! Das wirst du nicht überleben!«
Er schritt auf sie zu und wollte ihren Ellbogen packen.
Aber er kam zu spät.
Ines sprang in den Nebel.
Â
44.
Sie fiel nicht tief, vielleicht einen Meter, aber der Nebel verschluckte sie sofort. Ihre FüÃe landeten auf etwas Weichem und sie versank bis zu den Knien darin.
Ihr Herz stand für eine Sekunde still.
Um sie war alles grau und stumm und kalt. Sie blickte nach oben. Ein verschwommener Lichtfleck verriet ihr die Lage des Fensters, aus dem sie gesprungen war.
Ines konnte noch immer nicht glauben, dass sie es wirklich getan hatte.
Sie lauschte. Ob der alte Herr nach ihr rief? Falls ja, verschluckte der Nebel seine Stimme fast vollständig.
Mit der freien Hand tastete sie nach unten. Worauf war sie da gelandet? Aber ihre Finger griffen ins Leere, glitten nur durch kalten, weiÃen Nebel. Es war, als hätte er sich nur unter ihren FüÃen verfestigt und sie aufgefangen.
Sie hob Vopelians Lampe höher. Der Lichtkegel hatte einen kleinen Radius, aber die Kerze flackerte tapfer im Inneren, trotz der feuchten Luft.
»Und jetzt?«, wisperte Ines. »Was mache ich jetzt?«
Sie war heilfroh, nicht mehr im Refugium zu sein. Doch alleine im Nebel zu stehen, machte ihr ebenso Angst.
Es gab nur einen Weg, um diesem Albtraum zu entrinnen.
Ich muss Vopleian finden, koste es, was es wolle! Er sagte doch, sein Refugium sei nicht weit weg.
Sie lauschte in den Nebel, hörte aber nur den pfeifenden Wind, der um ihren Kopf strich, und ab und zu einen dumpfen Laut in weiter Ferne, als würde irgendwo eine mächtige Tür zuschlagen. Ãber ihr war der Lichtfleck des Fensters verschwunden. Vielleicht hatte der alte Herr den Vorhang zugezogen oder das Licht gelöscht â¦
»Es hilft alles nichts«, seufzte Ines. »Herumstehen bringt mich nicht weiter.«
Sie setzte einen Schritt in die Richtung, die ihrer Meinung nach vom Fenster wegführte. Wieder sank sie bis zum Knie in die neblige Masse ein. Es war, als würde sie auf Quark laufen. Wenn sie den Fuà hob, klebte das neblige Zeug für einen kurzen Augenblick auf der Haut. Doch immer wenn sie danach tastete, löste es sich zwischen ihren Fingern in Tröpfchen und Luft auf.
»Der Nebel trägt mich«, sagte sie. »So weit die guten Nachrichten â ich falle nicht herunter.«
Es war beruhigend, die eigene Stimme zu hören.
Sie schwenkte die Bronzelampe und suchte in der grauen Suppe vergeblich nach einem Zeichen. Sie musste schon etwas vorwärts gekommen sein. Die Frage war nur, wohin sie lief.
»Vielleicht sollte ich meine Schritte zählen. Wie soll ich mich sonst orientieren?«
Ein furchtbarer Gedanke beschlich sie. Was würde geschehen, wenn sie nicht aus dem Nebel hinausfand? Müsste sie dann hier sterben? Würde sie verhungern und verdursten? Oder war es wie im Refugium, wo man weder Hunger noch Durst verspürte?
Sie hörte in weiter Ferne ein Donnern â einen langsamen, rollenden Laut â, das bald wieder verhallte. Kurz darauf glaubte sie ein Flüstern zu hören. Sie fuhr herum, aber natürlich war da niemand.
Diese Geräusche, begriff Ines, kamen von weit her. Vielleicht drangen sie aus anderen, fernen Refugien an ihr Ohr, oder sie waren ein Nachhall aus vergangener Zeit und irrten im Nebel umher wie sie selbst.
Ich glaube, ich war noch nie an einem so verschwunschenen Ort, dachte Ines.
Die Kerze in ihrer Lampe flackerte wild, als wollte sie jede Sekunde erlöschen.
»Brenn bloà weiter«, befahl sie dem Kerzendocht. »Lass mich nicht im Stich!«
Sie stapfte weiter durch den Nebel. Bald hatte sie sich an den Untergrund gewöhnt, auch wenn jeder Schritt sie anstrengte. Und ihr Kleid, so hübsch es auch aussah, war für einen solchen Marsch nicht geeignet. Ines klapperte vor Kälte mit den Zähnen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als eine Jacke.
Aber leider war sie nicht im Refugium. Und der Nebel erfüllte keine Wünsche. Er war ein graues, kaltes, unbarmherziges Nichts, das ihren Augen keinen Anhaltspunkt bot und keinen Hoffnungsschimmer.
Sie war allein hier drauÃen, ihr Refugium in weiter Ferne. Selbst wenn sie es gewollt hätte â jetzt hätte sie nicht mehr dorthin
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