Ines oeffnet die Tuer
Wundersamste war ein schmaler Bach. Er entsprang einem steinernen Gesicht an der Wand, das von Sonnenstrahlen aus Blattgold umgeben war. Seine Lippen waren geschürzt, aus ihnen sprudelte klares Wasser und floss in einer Rinne durch das gesamte Refugium, um hinter einem wuchtigen Terrakottakrug zu verschwinden. Aus diesem erhob sich ein Limettenbaum, dessen Zweige tief herabhingen, da Dutzende hellgrüner Früchte an ihm reiften.
Ines kam aus dem Staunen nicht heraus. Dies war kein Raum, sondern ein künstlicher Garten, wie die Orangerie am Tierpark.
Als Vopelian zurückkehrte â in seiner Hand ein Becher, der bis zum Rand mit dampfendem Tee gefüllt war â, blickte sie ihn neugierig an.
»Das ist dein Refugium?«
Er reichte ihr den Becher. Sie trank einen Schluck und verbrannte sich fast die Zunge, während er zu einer Erklärung ansetzte.
»Ich weiÃ, es ist bescheiden. Nicht so prunkvoll wie manch anderer Raum. Aber ich mag ihn, wie er ist. Ich brauche Pflanzen um mich und Helligkeit.« Verträumt blickte Vopelian nach oben. Das einfallende Licht färbte seine Wangen rötlich.
»Scheint da drauÃen die Sonne?«, fragte Ines.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe oft hinausgesehen, dort ist nur ein blauer Himmel. Die Sonne ist der Welt auÃerhalb des Refugiums vorbehalten. Nur ihr Licht wandert bis zu meiner bescheidenen Behausung.«
Ines nippte wieder am Becher. Der Tee schmeckte herb und wärmte sie angenehm von innen.
»Aber nun sag, was tust du hier?«, wollte Vopelian wissen. »Bist du allein durch den Nebel gelaufen? Wie leichtsinnig! Du hättest dich verirren können. Es war reines Glück, dass du mein Fenster gefunden hast.«
Nicht nur Glück, dachte Ines. Die Musik hat mir die Richtung gewiesen. Ich wette, das war Agnes, die mir geholfen hat.
»Ich bin nicht freiwillig herausgeklettert«, verteidigte sie sich. »Es war ein Notfall.«
Vopelian zog einen zweiten Schemel heran und setzte sich neben seinen Gast.
»Was ist geschehen, kleine Ines?«
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Sie wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte. Also begann sie mit dem Buch, das sie Herrn zu Hausen gegeben hatte und das später gestohlen worden war. Dann schilderte sie ihre erste Begegnung mit dem alten Herrn.
Vopelian merkte auf.
»Ein Mann von groÃer Statur und beträchtlichem Alter, sagst du? Dessen Augen bis auf die Pupillen ganz weià sind?« Er nickte. »Ich denke, ich habe von ihm gehört. Auch wenn ich ihn selbst nie traf.«
»Wer ist er?«, fragte Ines. »Ist er so alt wie du?«
»Noch älter, fürchte ich. Ich habe dir doch von meinem Lehrer Timotheos erzählt, dem Gelehrten aus Athen. Er hat mich vor dem Mann mit den weiÃen Augen gewarnt. Er nannte ihn den Pharmakos ⦠den Vergifter. Ein mächtiger, sehr alter Magier, älter als die Refugien selbst. Timotheos vermutete gar, der Pharmakos wäre einer der Männer gewesen, die sie erbaut haben.« Vopelian beugte sich vor. »Timotheos berichtete von einem Bund habgieriger Männer, die die Refugien für sich allein haben wollten. Der Pharmakos wäre ihr Anführer. Sollte ich ihn je erblicken, müsste ich um mein Leben bangen. Denn er würde nicht ruhen, ehe er auch mein Refugium besäÃe.«
»Das klingt sehr nach dem alten Herrn«, folgerte Ines. »Meines will er nämlich auch haben.«
Vopelian legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Das bekommt er nicht so leicht. Er kann ja nicht einmal hinein. Denn es gehört dir, kleine Ines. Nur du bestimmst, wer es betritt.«
»Na ja«, murmelte sie kleinlaut. Und dann erzählte sie von Karol. Dass sie ihn in das Refugium gebracht hatte und der alte Herr mit seiner Hilfe hineingelangt war.
Noch während ihres Berichts stieg die Enttäuschung in ihr auf.
Warum hat Karol sich nur mit diesem Mann eingelassen? Ich verstehe das nicht. Hat der alte Herr ihn gezwungen?
Vopelian blickte nachdenklich drein, als sie geendet hatte.
»Das ändert natürlich die Lage. Dennoch, dein Refugium wird der Pharamkos nicht bekommen. Es mag sein, dass er mithilfe deines Freundes in das Refugium gelangen kann. Aber es gehört ihm nicht. Deine Oma hat es dir geschenkt. Nur du kannst es aus freiem Willen einem anderen Menschen überlassen. Er wird natürlich versuchen, dich dazu zu bringen, mit Schmeichelei und Drohung. Dem musst du
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