Ines oeffnet die Tuer
zurückgefunden.
Erschöpft blieb sie stehen.
»Hallo!«, rief sie dann. »Vopelian? Hörst du mich?«
Der Nebel verschluckte ihre Stimme.
»Hallo!«, rief sie noch einmal, etwas lauter, aber auch kläglicher.
»Ist denn hier niemand, gar niemand?«
Sie bekam keine Antwort.
Stattdessen vernahm sie einen verhaltenen Gesang.
Zuerst wusste sie nicht, ob es nur Einbildung war, ob ihre Sinne sie täuschten. Aber als sie die Ohren spitzte, hörte Ines tatsächlich eine weibliche Stimme, die durch den Nebel zu ihr drang, begleitet von einem Klavier und einem Knacken.
Diese Musik, so verschwommen und fern sie auch sein mochte, war ihr vertraut. Es war die Stimme von Lucie Paulette â¦
»Agnes«, wisperte Ines. »Das muss ein Zeichen sein!«
Sie lauschte, um die Richtung zu bestimmen, aus der die Musik kam, und stolperte weiter, den Klängen entgegen. Die Stimme der Sängerin machte ihr Mut, und sie wünschte sich, den französischen Text zu verstehen.
Â
Und dann sah sie endlich ein Licht!
Es war weit weg, wie ein ferner Stern, und durch den Nebel nur als trüber Schleier zu erkennen.
Ines riss die Augen auf, hob ihre Lampe und schwenkte sie.
»Hallo! Ist da jemand?«
Die Stimme von Lucie Paulette verhallte im Nebel.
Ines sammelte all ihre Kraft und schleppte sich weiter, Schritt für Schritt. Jeder einzelne davon war ein Kampf. Tief sank sie mit den FüÃen im Nebel ein und der wurde immer kälter. Sie spürte ihre Zehen nicht mehr.
Ich muss zu dem Licht gelangen, befahl sie sich. Ich muss es bis dorthin schaffen!
Sie lieà den milchigen Schleier nicht aus den Augen.
Tatsächlich wurde er heller! Sie kam ihrem Ziel näher.
Kurz, bevor ihre Kräfte sie verlieÃen, lichtete sich der Nebel.
Die Umrisse eines Fensters traten aus dem Grau und ein Sims aus flechtenbewachsenem Stein. Das Licht hinter dem Fenster war so grell, dass Ines die Augen abwenden musste.
Ihre Finger krallten sich in den Stein. Erschöpft lehnte sie sich gegen den Sims und blinzelte ins Innere eines Raums ⦠und in ein bärtiges Gesicht, das sich in ihr Blickfeld schob.
»Chaire, Ines! Welche Ãberraschung. Was machst du da drauÃen, bei allen Göttern?«
Sie musste vor Freude aufschluchzen, als sie den Mann erkannte.
Es war Vopelian.
45.
»Dass du mir einen Gegenbesuch abstattest â welche Ehre! Setz dich, Ines, setz dich ⦠du siehst müde aus. Bestimmt hast du einen anstrengenden Weg hinter dir.«
Vopelian schob Ines einen Holzschemel zu. Gerade erst war sie durch das Fenster geklettert. Nun sank sie dankbar auf dem Schemel nieder und streckte die müden Beine von sich. Ihr Gastgeber nahm Ines die Lampe und das zerknitterte Foto ab, wuselte aufgeregt um sie herum und murmelte in seinen krausen Bart.
»Was kann ich dir anbieten? Einen Schluck Wein? Ach nein, du bist ja noch ein Kind ⦠Blütennektar? Oder verdünnten Honig?«
»Etwas Warmes«, krächzte Ines, die noch immer am ganzen Leib zitterte. »Eine heiÃe Schokolade vielleicht â¦Â«
Vopelian runzelte die Stirn. »Eine heiÃe â was?« Natürlich, er kannte das Wort nicht.
»Oder einen Tee â¦Â«
Er nickte eifrig und verschwand in den Tiefen des Raums, den Ines erst jetzt richtig wahrnahm, nachdem sie sich an das Licht gewöhnt hatte.
Vopelians Refugium unterschied sich völlig von ihrem. Zunächst einmal: Es war riesig. Eine Halle, so groà wie die Schulaula. Die Wände und der Boden waren mit Mosaiken bedeckt: Bilder aus blinkenden Steinchen, die Gesichter, Landschaften und Fabeltiere zeigten. Vor allem aber hatte der Raum keine Decke! Die Mauern endeten drei Meter über dem Boden und gewährten einen Blick auf wolkenlosen Himmel. Die Sonne war nirgends zu sehen, aber Ines spürte die Wärme. Ihre tauben Zehen erwachten langsam.
Es war schwül in Vopelians Refugium. Das lag an den vielen Pflanzen, die in Tonkrügen herumstanden. Kleine Palmen und Zypressen, Sträucher mit kunstvoll geschnittenen Zweigen, Orchideen mit prächtigen Blüten, ein Kräutergarten, der den würzigen Duft von Thymian und Rosmarin verströmte.
Der Raum war nicht eben, es gab mehrere Treppchen, Sockel und Erhöhungen aus Marmor. Auf einer lagen bestickte Kissen, auf einer zweiten ein Bündel gefalteter Kleider, dazwischen ein Holzregal mit Fächern, in denen alte Schriftrollen steckten.
Das
Weitere Kostenlose Bücher