Ines oeffnet die Tuer
Die Dielen knirschten unter seinen Schuhen und der Sessel fauchte, als er vor ihm stehen blieb. Der schwarze Bezug sträubte sich, wie Ines es nie zuvor gesehen hatte. Der alte Herr bemerkte es, hob abfällig eine seiner buschigen Augenbrauen und sah sich weiter um.
»Dies also ist das Refugium von Agnes Larik! Kleiner, als ich erwartet hatte. Die Gute war so bescheiden. Ein Jammer, dass sie verschwunden ist.«
»Was haben Sie ihr angetan?«, stieà Ines hervor. »Haben Sie sie verschleppt?«
Er war an der Kommode angekommen. Seine behandschuhten Finger strichen über das Holz, die Uhr, dann über die Fotos, die Ines dort liegen gelassen hatte.
»Ich habe keine Ahnung, wo deine Oma ist. Vermutlich versteckt sie sich vor mir, weil sie meine Fragen nicht beantworten will.«
Der alte Herr stutzte. Er zog eine Fotografie aus dem Stapel hervor. Jene, auf der die kleine Agnes mit dem schwarzhaarigen Jungen im Refugium saà und aus dem Fenster blickte.
»Das ist interessant!« Er ging auf Ines zu und reichte ihr das Bild. »Würdest du mir zustimmen, wenn ich sage, dass diese Aufnahme hier im Refugium entstand?«
Ines nahm das Foto mit zitternden Fingern an sich.
»Das Mädchen muss deine Oma sein, aber der Junge ⦠wer ist der Junge? Kennst du ihn?«
Sie schüttelte den Kopf. Zugleich versuchte sie Blickkontakt zu Karol aufzunehmen. Aber der hatte noch immer den Kopf gesenkt. Ines spürte Zorn in sich aufsteigen. Wie hatte er ihr Geheimnis einfach verraten können?
Der alte Herr wartete auf eine Antwort. Dann wandte er sich an Karol.
»Karol, du kannst uns nun allein lassen. Ich bin dir sehr verbunden für deine Hilfe. Ohne dich wäre ich nicht in diesen Raum gelangt.«
Karol zögerte. Dann sagte er: »Aber ⦠Sie haben mir doch etwas versprochen. Sie wollten â¦Â«
»Ich halte stets mein Wort«, unterbrach ihn der riesenhafte Mann. »Ich lasse von mir hören.«
Karol sah Ines an. Er murmelte eine Entschuldigung.
Dann machte er kehrt und rannte durch die offene Tür nach drauÃen.
Ein Ruck ging durch Ines. Sie wollte ihm nachlaufen, aus dem Refugium fliehen! Aber der alte Herr war schneller. Er versperrte ihr mit seinem massigen Leib den Weg und warf die Tür hinter Karol zu.
Donnernd fiel sie ins Schloss.
»Nicht so schnell, Ines. Wir müssen uns unterhalten. Ãber diesen Jungen auf dem Foto und einiges mehr.«
Sie wich zum Fenster zurück. Den Mann lieà sie nicht aus den Augen.
»Deine Oma Agnes hat dir sicher einiges aus ihrer Vergangenheit erzählt. Wie sie das Refugium von ihrer Mutter bekam und zum ersten Mal betreten hat, und wer noch alles von diesem Raum weiÃ. Verstehst du, Ines, ich muss das alles wissen. Das ist wichtig für mich.«
»Ich kenne den Jungen auf dem Bild nicht«, sagte Ines hastig. »Lassen Sie mich gehen.«
»Nicht, ehe wir uns nicht einig geworden, wie es mit dem Refugium weitergehen soll.« Er faltete die Hände vor seinem Körper. »Im Augenblick ist die Lage verzwickt. Dank deines Freundes Karol kann ich das Refugium zwar betreten, aber es wäre mir lieber, wenn ich nicht auf ihn angewiesen bin. Du solltest mir den Raum überlassen, Ines. Das wäre für alle die beste und sauberste Lösung.«
Er will das Refugium tatsächlich für sich, folgerte Ines, so wie Agnes gesagt hat.
Und dann dachte sie: Ich muss hier weg! Sofort!
Sie spähte zur Tür. Aber der Mann würde sie nicht gehen lassen.
Hinter ihr wehte der Vorhang am offenen Fenster. Der eisige Luftstrom strich über ihre Schultern.
Im faltigen Gesicht des alten Herrn ging eine Veränderung vor.
»Warum hast du denn das Fenster geöffnet?« Unruhig blickte er an ihr vorbei in den Nebel. »Hat deine Oma dir überhaupt nichts beigebracht? Es ist gefährlich, sich mit dem Nebel einzulassen. Das haben schon viele versucht, aber sie haben es alle bereut. Der Nebel hat sie verschlungen â¦Â«
Die letzten Worte murmelte er mehr zu sich selbst, und zum ersten Mal glaubte Ines, so etwas wie Angst in seiner Miene zu erkennen. Seine Augenlider zuckten nervös. »Mach das Fenster zu!«
Ines drehte sich um.
Sie blickte in das umherwirbelnde, undurchdringliche Grau â und fasste einen Entschluss.
Sie packte die Bronzelampe fester, klemmte das Foto zwischen die Finger derselben Hand und kletterte auf den Sims.
»Was tust du da, Kind?«,
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