INFAM - Die Nacht hat tausend Augen (German Edition)
Handflächen, doch Sarah war so sehr von Adrenalin vollgepumpt, dass sie den Schmerz zunächst kaum wahrnahm. Sie wirbelte herum und schlug Sid die Stacheldrahtrolle mitten ins Gesicht. Er schrie laut auf, torkelte nach hinten und ging in die Knie. Begleitet von einem beinahe hysterischen Kreischen setzte Sarah nach und drückte die Rolle mit voller Kraft in sein Gesicht. Das Blut strömte aus ihren Handflächen und aus Sids Gesicht. Inzwischen spürte sie einen vehementen Schmerz, doch sie bewegte die Rolle druckvoll von links nach rechts und wieder zurück. Sid schrie wie ein abgestochenes Schwein. Er schlug wild um sich und einer seiner Schläge traf Sarah in den Magen. Sie ließ den Stacheldraht fallen und stolperte keuchend, während sie sich den Bauch hielt, davon. Sarah fiel auf die Knie und auf einmal drohten Schmerzen und Erschöpfung sie zu überwältigen. Mit letzter Willenskraft schleppte sie sich weiter, krabbelte trotz ihrer geschundenen Hände in eine dunkle Ecke des Kellers. Jetzt wäre die Gelegenheit da, um zu fliehen, doch Sarah konnte nicht mehr. Sie musste sich ausruhen – nur einen Moment lang. Hinter zwei Holzfässern rollte sie sich zusammen, wie ein Embryo im Mutterleib, und fing an zu schluchzen. Pochende Schmerzen, die von überall aus ihrem Körper zu kommen schienen, raubten Sarah die letzte Kraft. Sie wünschte sich besinnungslos zu werden, um nichts mehr spüren zu müssen. Stattdessen wurde ihr Kopf mit Bildern der grausigen Ereignisse des Abends überflutet. Sie dachte an Denise, das Blut, die Hand in der Truhe, den Moment als Sid sich im Bett umdrehte und schließlich an die pure Verzweiflung, die sie dazu getrieben hatte, mit bloßen Händen eine Stacheldrahtrolle hochzuheben, um sie einem anderen Menschen brutal ins Gesicht zu schlagen. Jetzt konnte und wollte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sarah weinte hemmungslos.
22
New York City, USA
In einer kleinen Villa, unweit des Central Parks in Manhattan, saß Robert Collister in seinem Arbeitszimmer und starrte nachdenklich auf den Laptop, der auf einem antiken Schreibtisch aus dunklem Nussbaumholz stand. Sein Blick schweifte ab zu dem, beidseitig von Bücherregalen umgebenen, Kamin, in dem die tanzenden Flammen stets ihre Form veränderten. Alles fließt, nichts bleibt, hatte der griechische Philosoph Heraklit einst gesagt und oft, wenn Robert in die sich ständig neu entwickelnden Flammen eines Feuers schaute, musste er an diesen Satz denken. Nichts im Leben ist ohne Wandel oder von Dauer, alles ist ein ständiger Fluss von Veränderungen und das Feuer ist die reine, natürliche Darstellung dieser Tatsache, dachte er.
Es war noch gar nicht lange her, da führte er ein erfülltes Leben, mit einem Beruf der ihm Freude machte und einer glücklichen Ehe. Seit aber vor etwa einem Jahr bei seiner Frau Carol Brustkrebs diagnostiziert worden war, schien alles den Bach runterzugehen. Sein gutbezahlter Job als Mathematiklehrer an der privaten Columbia Grammar & Preparatory School machte ihm mittlerweile keinen Spaß mehr, sondern war höchstens noch eine nicht unwillkommene Abwechslung zu seinem tristen Familienalltag, der hauptsächlich daraus bestand, seine Frau zu Ärzten zu begleiten oder sie in Krankenhäusern zu besuchen. Er liebte seine Frau und stand ihr gerne bei, aber das alles kostete immens viel Kraft. Darüber hinaus war ihr Sexualleben seit der Diagnose komplett eingeschlafen, was Robert zwar keineswegs verwunderte, aber auch alles andere als erfreute. Immerhin war er doch mit seinen 53 Jahren noch im besten Alter, fand Robert.
Da seiner Frau vor 3 Monaten die linke Brust amputiert worden war, hatte Robert wenig Hoffnung, dass sich die Totalflaute im Ehebett nochmal wieder in ein halbwegs befriedigendes Sexualleben verwandeln würde. Zwar ging es Carol momentan wieder gesundheitlich recht gut, aber sie hielt körperlich Distanz, weil sie sich wahrscheinlich nicht mehr als komplette, begehrenswerte Frau empfand. Vermutlich hatte sie Angst vor Sex unter diesen veränderten Umständen und schämte sich auch. Roberts kleiner Freund war natürlich auch nicht jubelnd in die Höhe gesprungen, bei dem Gedanken, dass Carol eine Brust fehlte, aber Robert störte das weitaus weniger, als Carol vielleicht annahm. Schließlich hatte seine Frau für ihn viel mehr Erotisches an sich, als nur ihre Brüste. Er hatte Carol wiederholt vermittelt, dass er sie nach wie vor begehrenswert fand und sie versucht zu gemeinsamen
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