INFAM - Die Nacht hat tausend Augen (German Edition)
dem Boden ab und bereute es sofort, da sie von einem maßlosen Schmerz gepeinigt wurde, der sie laut aufstöhnen ließ. Sarah biss die Zähne zusammen, stützte sich auf den Ellenbogen ab und ging in die Hocke. Sie lauschte in das Halbdunkel des Kellers hinein, konnte aber nichts hören. Bis vor kurzem hatte sie noch Sids wütendes Brüllen und lautes Gepolter gehört, nun war es vollkommen still. Sie hatte ihm ordentlich zugesetzt, aber er war sicher nicht außer Gefecht gesetzt. Vielleicht war er aber doch so stark verwundet, dass er jetzt erst mal mit sich selbst beschäftigt war und sich ausruhen musste. Jetzt oder nie, dachte Sarah. Sie wollte hier nicht länger verharren, sondern die Gelegenheit ergreifen.
Sarah huschte geduckt durch das Labyrinth aus alten Kisten, Möbeln und Werkzeugen, bis sie den kleinen Gang in der Mitte erreichte. Sie schaute sich kurz um, konnte aber keine Spur von Sid entdecken. Hier gab es jedoch genug dunkle Ecken, aus denen er plötzlich auftauchen konnte. Jetzt ist der Weg frei, renn und flieh, dachte Sarah.
Sie rannte den schmalen Gang entlang, vorbei an der Zelle mit dem Torso des halb aufgefressenen Mannes, bis zu der Stelle wo der Keller eine Biegung machte. Beflügelt durch die Tatsache, dass niemand sie aufhielt erhöhte sie das Tempo, während sie ihre unsäglichen Schmerzen so gut es ging ignorierte. Als sie um die Ecke bog, hielt sie abrupt an und konnte im letzten Moment verhindern, dass sie vor Schreck laut aufschrie. Auf sie wankte eine mit Blut besudelte Gestalt zu. Konnte das sein? Entsetzen, aber auch Freude und Erleichterung erfüllten Sarah, als sie Denise erkannte. Aber was war mit ihr geschehen? Sie sah aus als hätte sie in einer Badewanne mit Blut gelegen und war kaum wiederzuerkennen. Denise, die ein langes Kantholz in der rechten Hand hielt, legte den Zeigefinger der anderen Hand an ihre Lippen, um Sarah zu bedeuten, still zu sein. Sarah trat vor sie und wäre ihr am liebsten in die Arme gefallen.
Das ganze Blut, was hat sie nur durchgemacht? Aber Gott sei dank, sie lebt .
Über Denises Lippen huschte der Anflug eines Lächelns.
„Du lebst“, flüsterte sie.
„Wo warst du nur?“ Sarah packte Denise sanft an den Armen. Sie zog ihre Hände aber zugleich wieder zurück, als eine heftig pulsierende Schmerzwelle sie durchfuhr.
„Ich habe dich gesucht. Sie hatten mich in einen Folterraum gebracht, aber ich konnte fliehen. Erzähl ich dir später, wir müssen jetzt schnellstens hier weg. Sie suchen uns.“
Sarahs Augen weiteten sich vor Schreck. „Wen meinst du mit sie?“
„Sie sind grausam entstellt und ...“
Denise wurde von einem lauten Krach unterbrochen. Sarah wirbelte erschrocken herum. Ähnlich wie ein blutrünstiger Hai, der urplötzlich aus dem Wasser auftaucht, kam Sid aus einem dunklen Winkel des Kellers auf sie zu gestürmt. Er brüllte wütend, stieß allerlei Krempel zur Seite und als das Licht einer einsamen, altersschwachen Glühbirne sein Gesicht streifte, sah Sarah erstmals, was sie vorhin angerichtet hatte. Sein komplettes Gesicht war mit blutenden Schnittwunden übersät und diese verliehen ihm, zusammen mit seinem weit aufgerissenen Raubtiermaul mit den spitzen Zähnen und seinem zornigen Blick, das Aussehen eines furchteinflößenden Monstrums, das nicht von dieser Welt war. Sein linkes Auge, das Sarah malträtiert hatte, war blutunterlaufen und angeschwollen, was ihn nur noch bedrohlicher aussehen ließ. Er rannte auf sie zu, wie eine tollwütige Kreatur aus der Hölle. Denise griff an Sarahs rechten Oberarm.
„Geh zurück hinter mich.“
„Was hast du vor?“, schrie Sarah.
„Ich verpasse ihm eins hiermit!“ Denise holte mit dem Kantholz, das ungefähr einen Meter lang und sehr massiv war, aus. Angst überlagerte die gerade frisch aufgekeimte Hoffnung in Sarahs Innerem. Nun, da sie wusste, dass Denise lebte, wollte sie diesem Albtraum mehr denn je entfliehen.
Hoffentlich erwischt sie ihn so, dass er endlich erledigt ist.
Sid war nur noch wenige Meter entfernt und sein völlig entrückter, zu einer Fratze der puren Wut entstellter Gesichtsausdruck ließ nicht vermuten, dass er vor dem Kantholz sonderlichen Respekt hatte. Falls er überhaupt in der Lage war zu erkennen, was ihm drohte. Denise erinnerte an einen Batter im Baseball, der darauf wartet, dass er den heran fliegenden Ball optimal trifft, um seiner Mannschaft einen Homerun zu bescheren. Ihre Beine standen mehr als schulterbreit auseinander und sie hatte
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