INFAM - Die Nacht hat tausend Augen (German Edition)
die Polizei anrufen. Das war aber keine verlockende Vorstellung. Er sah die Beamten vor sich stehen, wie sie ihn eingehend musterten.
Herr Collister, auf was für Internetseiten treiben Sie sich denn herum?
Sie haben 99 Dollar bezahlt, um dabei zuzusehen, wie junge Frauen gequält werden? Wie verträgt sich so etwas denn mit ihrem verantwortungsvollen Beruf an einer angesehenen High School?
Wir würden gerne Ihren Computer beschlagnahmen, bis die Untersuchungen zu dem Fall abgeschlossen sind. Bitte begleiten Sie uns aufs Revier.
Robert griff in die rechte Tasche seiner beigen Cordhose und entnahm ihr ein Stofftaschentuch, mit dem er sich Schweiß von der Stirn wischte. Alleine schon bei dem Gedanken, dass fremde Leute – und auch noch Polizisten – die Bilder und Videos auf seinem Rechner entdeckten, die wirklich nur ihm vorbehalten waren, wurde Robert ganz schummrig. Die Polizei anzurufen war also keine Option. Vielleicht sollte er ihnen einfach eine Email senden.
Die können aber in Sekundenschnelle feststellen, von welchem Computer sie verschickt wurde, überlegte Robert. Das war also auch nicht besser als anzurufen. Ich hab´s, dachte er. Er würde einfach in das Internetcafé zwei Straßen weiter gehen und von dort eine Mail verschicken. Dort gingen die Leute ein und aus, und die Computer funktionierten per Münzbetrieb. Alles war also sehr anonym.
Wenn ich mir eine alte Jacke anziehe und die, seit Jahren im Schrank vor sich hin staubende, Yankees-Kappe tief ins Gesicht ziehe, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass mich jemand erkennt oder ich durch die Bilder einer Überwachungskamera aufgespürt werden kann.
Heutzutage wimmelte es ja schließlich in ganz New York vor lauter Videokameras. Statt die Polizei zu informieren, würde er direkt über die Homepage des FBI eine Nachricht hinterlassen. Dort konnte man schnell und unproblematisch eine kriminelle Aktivität oder mutmaßlichen Terrorismus melden, wie Robert erst jüngst gelesen hatte. Alle Nachrichten wurden umgehend von einem Agenten oder professionellen Mitarbeiter der Behörde überprüft, die dann schon die nötigen Schritte einleiten würden.
Wenn die Seite auffliegt, kann das FBI dich wahrscheinlich auch anhand deiner Kreditkartendaten ermitteln, die du angegeben hast, ermahnte ihn seine innere Stimme.
Das Risiko muss ich eingehen, dachte Robert.
Er würde später die Bilder und Videos, die niemand sehen sollte, auf einen USB-Stick überspielen und von seinem PC löschen. Falls irgendwann mal jemand vor seiner Tür stehen würde und ihn nach dieser Veranstaltung fragen sollte, würde er sich einfach dumm stellen und behaupten, davon ausgegangen zu sein, dass alles nur ein aufwendig inszenierter Horrorfilm war, den er ganz spontan aus Neugierde gucken wollte. Ob man ihm das glaubte, oder nicht – das würde man ihm kaum ankreiden können.
Robert öffnete eine Schublade zu seiner Rechten und entnahm ihr einen Notizblock und einen Füllfederhalter. Er schrieb die URL der Webseite und die Adresse von Sarah auf ein Blatt Papier, riss es ab und steckte es in seine Hosentasche. Abrupt stand er auf und verließ das Zimmer, während sein Blick nochmal zum Feuer im Kamin huschte. Er wollte keine Zeit mehr verlieren, denn jede Sekunde konnte entscheidend sein und das Leben stand – wie auch eine Flamme – niemals still.
23
Sarahs Tränen hörten nicht auf zu fließen und die Schmerzen raubten ihr allmählich den Verstand. Ihr Magen und ihr Brustkorb taten höllisch weh, am weitaus schlimmsten waren jedoch die, wie Feuer brennenden, Wunden an ihren Händen. Die Versuchung war verlockend, hier einfach liegen zu bleiben, die Augen zu schließen und wegzutreten. Sarah hatte ihr Bestes gegeben, hatte wahrhaftig bis aufs Blut gekämpft und nun war ihre Kraft einfach aufgebraucht. Wenn Sid sie gleich finden würde, dann sollte dies vielleicht einfach so sein. Wenn sie Glück hatte, würde sie nichts mehr von den Gräueltaten mitbekommen, die er ihr vermutlich antun würde. Doch eine innere Stimme trieb sie leise aber nachdrücklich an, nicht aufzugeben und über ihre Grenzen hinauszugehen. Sie flüsterte ihr zu, aufzustehen und aus dem Keller in die Freiheit zu fliehen. Sie ließ Bilder von ihrem kleinen Bruder, ihren Eltern und Sushi in Sarahs Kopf aufsteigen. Bilder, die ihr verdeutlichten, wofür es sich lohnte, zu leben und zu kämpfen.
Wenn ich jetzt nicht aufstehe, stehe ich nie mehr auf.
Sie stützte sich mit der rechten Hand auf
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