Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
Vom Netzwerk:
werden.«
    Lilly beschrieb etwas, das dem Verlangen gleichkam, das Süchtige empfinden, wenn sie auf Entzug gehen. Für sie waren die Injektionen und die daraus resultierenden Infektionen schließlich nichts anderes als Rauschmittel gewesen. Sie hatten ihren Verstand betäubt, damit sie sich nicht ihren komplizierten Gefühlen für ihren Großvater stellen musste. Nun, da die schmerzvolle Realität über sie hereinbrach, flehte ihr Verstand sie an, weiter zur Droge zu greifen. »Haben Sie noch weiter über Ihre Beziehung zu Ihrem Großvater nachgedacht?«, fragte ich.
    »Ein bisschen, während des Tages«, antwortete sie. »Aber sehr viel, wenn ich kurz vor dem Einschlafen bin.«
    Sie schien nicht mehr sagen zu wollen, deshalb beschloss ich, sie zu provozieren. »Was geht Ihnen durch den Sinn, wenn Sie im Bett liegen?«, fragte ich sanft.
    Sie wurde rot. »Ich habe diese Träume. Sie sind anders als die, die ich hatte, wenn ich mir selbst wehgetan habe.«
    »Inwiefern?«, fragte ich.
    »Ich tue … ihm weh«, sagte sie.
    Das überraschte mich nicht. Je länger Lilly ihrer krankhaften Angewohnheit entsagte und über die unangemessene Beziehung nachdachte, die diese Angewohnheit hervorgerufen hatte, desto wütender würde sie werden. »In welcher Weise tun Sie ihm weh?«, fragte ich sie.
    »Es ist schrecklich«, sagte sie.
    »Es sind nur Gefühle«, beschwichtigte ich sie. »Der einzige Mensch, dem Sie in Wahrheit wehtun, sind Sie selbst.«
    Sie sah einen Moment lang auf ihr Bein. »In den Träumen bin ich im Bett«, begann sie zögernd. »Grandpa kommt in mein Zimmer, um mir einen Gutenachtkuss zu geben.« Sie sah mich an.
    »Und dann?«, fragte ich mit ruhiger Stimme.
    »Ich tue so, als würde ich schlafen, aber das ist nicht wahr. Er kommt immer näher. Es scheint so, als würde es ewig dauern, bis er bei mir ist. Am Ende sehe ich seinen Schatten an der Wand. Ich beobachte den Schatten, während er sich über mich beugt, um mich zu küssen. Und dann, wenn seine Lippen fast meine Stirn berühren, drehe ich mich um und …« Sie schloss die Augen.
    »Und …«, ermutigte ich sie.
    Sie ließ ihre Augen geschlossen. »Ich habe ein Messer.«
    »Was passiert dann?«
    Sie sah mir ins Gesicht. »Ich schneide ihm die Kehle durch.« Ihr Gesicht war von Entsetzen verzerrt.
    »Und dann?«
    »Dann starrt er mich so schrecklich verwirrt an. So als hätte er keine Ahnung, warum ich das getan habe. Und das ist das Schlimmste daran. Dieser Ausdruck auf seinem Gesicht. Es ist sogar noch schlimmer, als mir auszumalen, was ich ihm angetan habe – Sie wissen schon, all das Blut, das aus seinem Hals spritzt. Ich kriege diesen Gesichtsausdruck nicht mehr aus dem Kopf.«
    »
Sorg dafür, dass sie ihn nicht in die Realität holt
«, ermahnte mich die Stimme in meinem Hinterkopf.
    »Sie verspüren aber nicht den Drang, sich tatsächlich in dieser Weise an Ihrem Großvater zu rächen, oder?«, fragte ich. »Wenn Sie wach sind?«
    Sie starrte mich an, als hätte ich zwei Köpfe. »Mein Gott, nein. Ich könnte ihm niemals wehtun.«
    »Das hatte ich auch nicht gedacht«, sagte ich.
    Lillys Albtraum war leicht zu deuten. Ihr Großvater hatte mit ihr gespielt, hatte sie jahrelang verführt. Er war
immer näher
gekommen, ohne jemals Hand an sie zu legen. Dem Unterbewusstsein eines pubertierenden Mädchens muss es so vorgekommen sein, als würde er sich ewig Zeit lassen, sie sich zu Eigen zu machen. Doch die Wut dieses Mädchens darüber, manipuliert zu werden, wuchs Hand in Hand mit ihrem sexuellen Trieb, was ihre Fantasien erklärte, dass sie ihren Großvater tötete, während sie im Bett lag, gerade
als seine Lippen fast meine Stirn berühren
. Selbst die
Verwirrung
ihres Großvaters traf genau ins Schwarze. Er mochte nie bewusst die Absicht gehabt haben, Lilly etwas anzutun, sondern war mechanisch seiner eigenen perversen emotionalen Triebhaftigkeit gefolgt – seinem Schatten –, geboren aus welchem Kindheitstrauma auch immer.
    Etwas, das Ted James mir vor Jahren gesagt hatte, kam mir wieder in den Sinn. Er hatte versucht, mir zu helfen und mich von meiner Wut auf meinen Vater zu befreien, was mir nie vollständig gelungen war. »Irgendwann«, hatte James gesagt, »wirst du erkennen, dass niemand Schuld hat und dass es niemanden gibt, den man hassen muss. Dein Vater war ein Opfer, genauso wie du.«
    Ich sah Lilly an. »Vielleicht sieht Ihr Großvater verwirrt aus, weil er nie verstanden hat, was Ihre Beziehung vergiftet hat«, sagte ich.

Weitere Kostenlose Bücher