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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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seine Schulter. »Ich habe bessere Erinnerungen an das Gefängnis als an Darwins Haus«, sagte er. »Wenigstens sind sich hier alle einig, dass es ein Gefängnis ist. Da weiß man irgendwie, was man zu erwarten hat.«
    Zwei Tage später sagte Garret vor der Anklagejury aus. Carl Rossetti war anwesend, ebenso wie Bezirksstaatsanwalt Tom Harrigan.
    Rossetti berichtete mir, die Szene wäre herzzerreißend gewesen. Garret war ein Nervenbündel gewesen, zitternd und schwitzend, und es war erheblich mehr gutes Zureden notwendig gewesen als im Bostoner Polizeipräsidium. Trotzdem hatte er schließlich mit seiner Augenzeugen-Schilderung, nach der sich die Tube Dichtungsmasse in Bishops Hand und das Tablettenfläschchen Nortriptylin in seinem Schreibtisch befand, den letzten Nagel in Darwin Bishops Sarg getrieben. Alles passte perfekt zu den Fingerabdrücken. Nicht einmal eine Stunde, nachdem Garret den Zeugenstand verlassen hatte, wurde gegen Darwin Bishop formelle Anklage wegen Mordes mit extremer Heimtücke und Grausamkeit (ein besonderer Zusatz, den das Strafgesetzbuch von Massachusetts vorsieht) sowie versuchten Mordes in zwei Fällen (Tess und Julia) erhoben.
    »Ich bin lange genug in dieser Branche, dass mich die meisten Dinge kalt lassen«, hatte Rossetti mir erklärt, »aber als Garret zusammengebrochen ist und geschluchzt hat, er würde seinen Vater noch immer lieben, auch wenn er sich nicht erklären könnte, warum, da sind mir selbst beinahe die Tränen gekommen.«
    »Beinahe«, hatte ich bemerkt.
    »Ehrlich, Franko, mich siehst du nur weinen, wenn ich auf der Rennbahn verliere. Wenn ich mehr als einen Riesen verliere, plärre ich wie ein Baby. Alles andere berührt mich nicht, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Dir sind also die Tränen gekommen«, stellte ich fest.
    »So gut wie«, bestätigte er.
    Als Garret nach Hause kam, setzte ich mich mit ihm zusammen. »Ich habe mit Carl Rossetti gesprochen«, erklärte ich. »Ich weiß, wie schwer es heute für dich war.«
    »Ich hätte nicht gedacht, dass es das sein würde«, sagte er. »Ich dachte, es wäre leichter als beim letzten Mal. Vielleicht liegt es daran, dass der Prozess immer näher rückt.«
    »Und der Prozess selbst wird sogar noch schwerer sein«, warnte ich. »Trotz allem, was Darwin getan hat, ist es ganz normal, dass du eine seltsame Art von Hingabe für ihn empfindest.«
    »Das ist es, was ich nicht verstehe«, sagte er. »Warum kümmert es einen, was mit jemandem passiert, der einen gequält hat?«
    Die Antwort auf diese Frage ist eine weitere von jenen sonderbaren menschlichen Gleichungen. Die meisten Kinder erhalten lieber um jeden Preis das Wunschbild einer liebevollen Beziehung zu ihren Vätern und Müttern aufrecht, selbst wenn es sie ihre Selbstachtung kostet. Wenn man drei oder sieben Jahre alt ist, ist es weniger beängstigend, sich selbst als einen enttäuschenden Versager zu sehen, den niemand lieben kann, als die Tatsache zu akzeptieren, dass man mit einem Ungeheuer zusammenlebt. »Deine Liebe zu Darwin in Frage zu stellen würde bedeuten, Zweifel daran zuzulassen, ob
er dich
je geliebt hat«, erwiderte ich. »Das ist schwer, egal ob du nun siebzehn bist oder siebenundzwanzig. Glaub mir.«
    »Hat Ihr Vater Sie … misshandelt?«, fragte er.
    »Ja«, sagte ich. »Er hat mich geschlagen.«
    »Scheiße«, entfuhr es ihm. »Das tut mir Leid.«
    »Danke.«
    Er schüttelte den Kopf und atmete tief durch. »Trotz allem, was Darwin mir angetan hat, bin ich immer davon ausgegangen, dass er es nicht ernsthaft so meinte. Aber das muss er getan haben. Er kann nichts für mich empfunden haben. Nicht auf irgendeine normale Weise.«
    Ich konnte die Schuldgefühle in Garrets Stimme hören. Schließlich stand er kurz davor, seinen Vater für den Rest seines Lebens ins Gefängnis zu schicken. »Das ist keine Frage, die du einfach aus dem Stegreif für dich klären kannst«, sagte ich. »Aber wenn du wieder und wieder darauf zurückkommst, dann wirst du der Wahrheit immer näher kommen. Und du wirst immer weniger Angst davor haben. Selbst wenn es wehtut.«
    Wir saßen einen Moment lang schweigend da. »Ich bin froh, dass Sie hier sind – dass Sie für eine Weile bei uns wohnen, meine ich«, sagte er schließlich.
    Ich streckte die Hand aus und drückte seine Schulter. »Ich auch«, erklärte ich.

21
    Das Haus von Julias Mutter war typisch für Martha’s Vineyard – eine übergroße umgebaute Scheune auf einem grünen Hügel, einen Steinwurf vom Meer

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