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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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gezwungen, Mordanklage gegen ihn zu erheben. Wenn er es nicht tut, würde er sich eine Blöße geben.«
    »Das könnte genau das sein, was Bishop beabsichtigt.«
    »Harrigan dazu zu bringen, Anklage gegen Billy zu erheben, bevor er sich richtig vorbereitet hat?«
    »Oder«, sagte ich, »ihn Anklage gegen Billy statt gegen jemand anderen erheben zu lassen.«

4
    Der letzte Cape-Air-Flug brachte mich kurz nach 20 Uhr wieder zurück nach Boston. Anderson und ich hatten beschlossen, dass ich am nächsten Morgen mit der Pendlermaschine nach New York fliegen würde, vorausgesetzt, dass er so schnell eine Genehmigung für mich bekommen konnte, Billy Bishop im Payne Whitney zu besuchen.
    Auf der Rückfahrt nach Chelsea hielt ich am Mass General an, da ich mein Versprechen einlösen wollte, Lilly Cunningham nach der Öffnung und Drainage ihres Beinabszesses zu besuchen.
    Sie schlief, als ich in ihr Zimmer trat, doch ihre Nachttischlampe brannte. Schon von der Tür aus konnte ich sehen, dass die Operation größer als geplant gewesen war. Ihr leicht abgewinkeltes Bein hing in einem Streckverband knapp zwanzig Zentimeter über der Matratze. Ihr Schenkel, in den von beiden Seiten ein dünner Stahlstab geschraubt worden war, war mit einem nassen Mullverband abgedeckt.
    Ich klopfte am Türrahmen, doch sie wachte nicht auf. Ich trat ins Zimmer, stand einen Moment lang da, lauschte dem schleppenden elektronischen Pulsschlag der nächtlichen Station und beobachtete, wie Lilly atmete. Ich versuchte, mir die Gefühle vorzustellen, die sie jedes Mal gehabt hatte, wenn sie sich eine Spritze ins Fleisch gebohrt und ihr Inneres vergiftet hatte. Ich glaubte nicht, dass es Wut oder Panik oder auch nur Kummer gewesen war, sondern wahrscheinlich eher Erleichterung. Vielleicht sogar Euphorie. Für den Moment konnte sie die Normalität abstreifen. Ihr vorgetäuschtes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen konnten dahinschmelzen und ihrem wahren unbewussten Bild von sich selbst als schmutzig, als infizierter Abschaum Platz machen. Wie jemand, dem man endlich erlaubte, seine Arme zu senken, nachdem er sie stundenlang hochgehalten hatte, konnte sie den Kampf aufgeben, ihre Dämonen abzuwehren, und sich stattdessen von ihnen mitreißen lassen.
    »Lilly«, sagte ich leise.
    Sie rührte sich nicht.
    »Lilly«, wiederholte ich ein wenig lauter.
    Sie öffnete langsam die Augen, reagierte aber nicht.
    »Ich bin’s, Dr. Clevenger«, sagte ich. »Ich hatte versprochen, dass ich nach dem Eingriff vorbeikommen würde.«
    Sie stieß einen verschlafenen Seufzer aus, ehe sie die Augen wieder schloss. »Sie haben mir etwas gegen die Schmerzen gegeben.«
    »Möchten Sie lieber weiterschlafen? Ich könnte versuchen, morgen wiederzukommen.«
    Sie sah mich an und kniff die Augen zusammen, um ihren Blick auf mich zu konzentrieren. »Nein. Bleiben Sie.«
    Ich trat an ihr Bett, zog mir einen Sessel heran und setzte mich. »Wie ist es gelaufen?«, erkundigte ich mich.
    »Dr. Slattery sagt, dass die Infektion zum Knochen vorgedrungen war. Sie mussten ein Stück entfernen.«
    Ich nickte und betrachtete die Stahlstäbe, die ihr Bein zusammenhielten. »Die Wunde zu öffnen und alles Schlechte herauszulassen sollte verhindern, dass es je wieder passiert«, sagte ich und bediente mich dabei erneut der Metapher für ihr psychologisches Trauma.
    »Sicher«, flüsterte sie, offenkundig nicht überzeugt.
    Mir fiel wieder ein, dass ich ihr gesagt hatte, ich hätte keine Angst davor, die Wahrheit zu sehen – selbst wenn sie hässlich war. Ich musste beweisen, dass das auf der physischen Ebene stimmte, um Lilly dazu zu bringen, mir ihre emotionalen Wunden zu offenbaren. Ich beugte mich vor und berührte eine Ecke der Mullbinde. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich es mir ansehe?«, fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf. Ihr Blick war starr auf meine Hand gerichtet.
    Vorsichtig zog ich den Mull gerade so weit zurück, dass ich – und Lilly – den Einschnitt sehen konnten. Sie wandte augenblicklich ihren Kopf ab und starrte an die Wand, während ich die aufgeschnittenen Schichten von Haut, Fettgewebe und Muskeln eingehender betrachtete. Steriler Mull, voll gesogen mit blutiger Drainage, hielt die Wunde offen, die eindeutig bis zum Knochen hinabreichte. »Gut«, sagte ich.
    »Gut?«, stieß sie verbittert hervor.
    »Das verbliebene Gewebe sieht gesund aus«, erklärte ich.
    Sie verdrehte die Augen.
    »Das Letzte, was Sie wollen«, sagte ich, »ist ein Chirurg, der nicht bereit ist,

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