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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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zurückzuweichen, irrational – verwurzelt in der Scham eines kleinen Jungen, weil er sich nicht entschlossener gegen seinen brutalen Vater aufgelehnt hatte. Doch selbst Dr. James war es nie gelungen, diesen speziellen Knoten in meiner Psyche zu lösen.
    Montag, 24. Juni 2002
    Die Pendlermaschine nach LaGuardia hatte nur achtzig Minuten Verspätung, also traf ich kurz vor zehn im Payne Whitney ein, einem unauffälligen Gebäude zwischen der 68. und der York Street auf dem Gelände des New York Presbyterian Hospital Cornell Medical Center. Billy Bishop war Patient in der geschlossenen Abteilung für Kinder und Jugendliche im zweiten Stock. Ich fuhr mit dem Aufzug hinauf, folgte den Schildern den langen weißen Flur entlang und drückte den Klingelknopf neben einer grauen Stahltür mit der Aufschrift »3 Ost«. Durch die Sicherheitsglasscheibe in der Mitte der Tür konnte ich Mädchen und Jungen verschiedener Altersstufen sehen, die sich auf der Station tummelten, während die Betreuer zwischen ihnen umhergingen.
    »Ja?«, krächzte eine Frauenstimme aus der Gegensprechanlage neben der Tür.
    »Ich bin Dr. Clevenger«, stellte ich mich vor. »Ich bin hier, um mit Billy Bishop zu sprechen.«
    »Wir haben Sie um halb elf erwartet«, sagte sie.
    »Ich bin etwas zu früh dran.«
    »Möchten Sie erst etwas in der Cafeteria essen?«
    In der Psychiatrie dreht sich alles darum, Grenzen festzulegen und Kontrolle zu wahren. Patienten, deren Verstand sich im Zustand der Auflösung befindet, vermittelt die strikte Struktur eine gewisse Geborgenheit. Das Problem ist, dass das Personal regelrecht süchtig danach werden kann und unfähig, auch nur einen Zentimeter nachzugeben, für nichts und niemanden. »Nein«, antwortete ich. »Ich habe bereits gegessen.«
    »Es gibt ein nettes kleines Café auf der anderen Straßenseite.«
    »Ich würde lieber mit dem Gespräch beginnen.«
    »Ich frage nach, ob das möglich ist«, erwiderte die Stimme kühl. »Warten Sie bitte.«
    Fünf Minuten verstrichen, bevor eine mollige Frau etwa in meinem Alter mit einer Halbbrille und einem wallenden, bunt bedruckten Kleid zur Tür kam und mich hereinließ. Ihr ergrauendes Haar war lang und hing ungebändigt über ihre Schultern. Sie trug ein halbes Dutzend Perlenketten. »Ich bin Laura Mossberg«, stellte sie sich mit einem unverkennbaren New Yorker Akzent vor, »Billys betreuende Psychiaterin.«
    Ich schüttelte ihre Hand. »Frank Clevenger.«
    »Tut mir Leid, wenn die Stationssekretärin Ihnen Schwierigkeiten gemacht hat«, sagte sie.
    »Kein Problem«, erwiderte ich. »Ich bin vierzig Minuten zu früh dran. Ich weiß, dass so etwas eine geschlossene Abteilung auf den Kopf stellen kann.«
    Sie lachte. »Warum unterhalten wir uns nicht ein paar Minuten in meinem Büro, bevor ich Sie zu Billy bringe.«
    Auf dem Weg durch die Station kamen wir an einigen Patienten vorbei, die höchstens vier oder fünf Jahre alt waren, und an anderen, die eher wie siebzehn oder achtzehn aussahen. Sie wirkten völlig normal, während sie das Wochenende damit zubrachten, im Flur zu plaudern, auf ihren Zimmern Brettspiele zu spielen oder im Gemeinschaftsraum fernzusehen. Doch ich wusste aus meiner eigenen Assistenzzeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie damals im New England Medical Center in Boston, dass nur die gestörtesten jungen Menschen Aufnahme in stationären Therapie-Einrichtungen fanden, jene, bei denen die Gefahr bestand, dass sie Selbstmord oder einen Mord begingen. Die Maßgaben der Krankenversicherungen sorgten dafür, dass der Rest unterschiedslos in die ambulante Behandlung abgeschoben wurde. Die Patienten hier standen alle unter psychoaktiver Medikation. Jeder von ihnen konnte ohne Vorwarnung einen Wutausbruch bekommen oder von Halluzinationen überwältigt werden. Ihr Verstand war bereits ins Chaos abgestürzt – sei es durch Trauma, Missbrauch oder Drogen- und Alkoholsucht. Sie würden vielleicht niemals ein normales Leben führen, wie viel Hilfe ihnen auch immer zuteil wurde. Kinder sind bedeutend weniger widerstandsfähig, als man gemeinhin annimmt.
    Ich dachte an die tödliche Gewalt, deren Zeuge Billy in Russland geworden war, und das Trauma, das er zweifelsohne im Waisenhaus erlitten hatte. War es da ein Wunder, dass ein Junge, dessen Welt zerstört worden war, selbst zum Zerstörer wurde? War es nicht nur zu verständlich, dass das destruktive Potenzial des Feuers ihm so warm erscheinen musste wie eine Heimkehr nach einer langen Reise? Würde er

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