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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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nicht versucht sein, die Schrecken, die er selbst durchgemacht hatte, nachzuempfinden, indem er in die Augen eines verängstigten Haustiers eines Nachbarn blickte? Im nächsten Augenblick kam mir ein weit beunruhigenderer Gedanke in den Sinn: Würde ihn der Anblick seiner kleinen Schwester, die um ihre letzten Atemzüge rang, an seine eigene emotionale Erstickung erinnern?
    Wir betraten Miss Mossbergs Büro, ein Kabuff von höchstens sechs Quadratmetern, dass voll gestopft mit Büchern und medizinischen Fachzeitschriften war. »Bitte«, sagte sie und deutete auf einen Stuhl neben ihrem Schreibtisch.
    Ich bahnte mir einen Weg zu dem Stuhl, sorgsam darauf bedacht, keinen der Stapel am Boden umzustoßen. Ich nahm einen
New York Times-
Packen, zwei Bände mit Tennyson-Gedichten und eine Ausgabe von Harry Crews’ 
Eine Kindheit
vom Sitz und nahm Platz. In der nächsten Sekunde war ich praktisch Auge in Auge mit dem einzigen Objekt, das Mossbergs Wände zierte: einem ein Meter mal einszwanzig großen Gemälde eines Hundes mit neonblauem Fell, einer weißen Schnauze und großen, aufgerichteten Ohren. Der Hund saß inmitten von sanft abfallenden grünen Hügeln und blauschwarzen Eichen und hatte einen fragenden Ausdruck auf dem Gesicht, während seine großen goldenen Augen in das Büro starrten, als würde er auf etwas warten.
    »Interessantes Bild«, bemerkte ich.
    »Blauer Hund? Sie hilft mir, die Kinder zum Sprechen zu bewegen. Manchmal erzählen sie ihr Dinge, die sie mir nicht erzählen können, und ich höre einfach nur ihrer Unterhaltung zu.«
    »Sie sieht aus, als hätte sie schon eine Menge Geschichten gehört«, sagte ich.
    »Das liegt an den großen Ohren«, erklärte Mossberg schmunzelnd.
    Ich fühlte mich in Mossbergs Büro und ihrer Gegenwart wohl. Die Fähigkeit, dieses Gefühl bei Leuten hervorzurufen, ist bei Psychiatern unverzichtbar – und trotzdem rar. Ich schätze, einer von fünfzig besitzt diese Gabe. »Sie mögen Perlen«, bemerkte ich und deutete mit einem Nicken auf ihre Ketten.
    »Ich mag das, was wir von ihnen lernen können«, erwiderte sie, griff an ihren Hals und drehte eine der Perlen zwischen Daumen und Zeigefinger. »Das Sandkorn ist ein Reizkörper, doch die Auster verwandelt ihn in etwas Wunderschönes. Eine Auster ohne das eine oder andere Sandkorn hat keinerlei Potenzial. Dasselbe gilt für Menschen, wenn Sie mich fragen.«
    »Da stimme ich zu«, sagte ich. »Ich habe das Gefühl, ich sitze hier einer engen Freundin gegenüber.«
    Sie lächelte. »Vielleicht«, sagte sie. »Ich kenne Ihre Arbeit. Sie hatten etliche faszinierende Fälle.«
    Hin und wieder begegne ich zufällig jemandem, der eine der Kurzbiografien von mir gelesen hat, die in Publikationen von
Annals of Psychiatry
bis zu
People
erschienen sind, als ich einen Kriminalfall nach dem anderen übernommen hatte, von denen jeder grausiger war als der vorhergehende. Doch das war eine andere Zeit, und ich war damals ein anderer Mensch. Und ich wollte nicht mit Mossberg darüber reden. »Ich habe meine forensische Praxis vor zwei Jahren aufgegeben«, erklärte ich. »Normalerweise hätte ich nichts mit Billys Fall zu tun. Das Gespräch mit ihm ist ein Gefallen für einen Freund von der Polizei.«
    Sie verstand diesen Wink mit dem Zaunpfahl nicht. »Mir ist noch nie ein Fall wie der von diesem psychiotischen Schönheitschirurgen untergekommen«, fuhr sie unbeirrt fort. »Wo war das noch? Lynn, Massachusetts? Das staatliche Krankenhaus?«
    »Stimmt.«
    »Dr. Trevor Levitt.«
    Ich wünschte mir von Herzen, sie würde aufhören.
    »Nein. Lucas«, sagte sie. »Trevor Lucas. Er hatte Geiseln genommen. Krankenschwestern, Patienten und so.«
    »Ja.«
    »Und Sie haben ihre Freilassung ausgehandelt«, fuhr sie fort.
    Ich konnte das Pochen meines Pulses in meinen Schläfen fühlen. »Nicht von allen«, sagte ich. »Lucas hat ein paar von ihnen abgeschlachtet, bevor ich den Sieg erklären konnte und für die Zeitungen fotografiert wurde. Das ist eine unbedeutende Tatsache, die die Leute gern übersehen.«
    »Tut mir Leid«, sagte sie. »Ich erinnere mich daran, etwas von einer alten Frau gelesen zu haben. Ihr Körper war verstümmelt worden – mit einem Messer.«
    Ich antwortete nicht.
    »Und wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, hat Lucas an einer weiteren Geisel irgendeine primitive Form von
Neurochirurgie
durchgeführt?« Sie schüttelte den Kopf. »Es war sehr mutig von Ihnen, die Station überhaupt zu betreten …«
    Auf meiner

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