Infam
Stirn standen Schweißperlen, die ich mit meinem Hemdsärmel abwischte. »Diese Erinnerungen sind sehr schmerzhaft für mich. Ich rede nicht darüber.«
Mossberg lehnte sich in ihrem Schreibtischsessel zurück und musterte mich eingehend. »Ich verstehe«, sagte sie mit diesem typisch freundlichen Therapeuten-Tonfall.
Ich wusste genau, was sie dachte. Ich an ihrer Stelle hätte dasselbe gedacht: Die Tatsache, dass man nicht über eine Erinnerung reden konnte, bedeutete, dass man noch immer ihr Sklave war. Doch ich war noch nicht bereit für den Kampf, mich von ihnen zu befreien, und außerdem war ich nicht zu ihr gekommen, um mir von ihr helfen zu lassen. Ich war hier, um Hinweise zu bekommen, die uns bei der Aufklärung des Mordes an einem kleinen Mädchen helfen würden – und um zu gewährleisten, dass ihre Zwillingsschwester am Leben blieb. Ich richtete mich ein wenig auf. »Was können Sie mir über Billy Bishop erzählen?«, fragte ich nachdrücklich.
Sie musterte mich durchdringend und kniff ihre Lippen zusammen, als würde sie ihre Diagnose von mir abschließen. Wenn sie so scharfsinnig war, wie ich sie einschätzte, würde sie den richtigen Schluss ziehen: ein mehr oder weniger ausgewachsener Fall von posttraumatischem Belastungssyndrom. Ein oder zwei Augenblicke verstrichen. »Gut«, sagte sie. »Es tut mir Leid, wenn ich zu forsch war. Ich habe die Neigung, in Bereiche vorzudringen, in denen ich nicht willkommen bin.«
»Schon in Ordnung«, erwiderte ich. »Ich verstehe das.«
Sie nickte. »Was Billy angeht … Er ist ein sehr gefährlicher Mensch, so viel kann ich sagen. Er scheint ein junger Mann ohne Gewissen zu sein. Es überrascht mich nicht, dass er über seine Schwester hergefallen ist.«
»Wieso sagen Sie das?«
»Ganz sicher nicht wegen irgendetwas, das er mir erzählt hätte«, gab sie zurück. »Er erzählt gern und freimütig von Nantucket, Manhattan, Sport, Fernsehen und allem anderen, das keinerlei Verbindung zum Tod des Bishop-Babys hat – oder zu seinem Leben in Russland. Diese Themen meidet er wie die Pest.«
»Das kann ich verstehen«, sagte ich.
»Natürlich können Sie das«, bemerkte sie viel sagend.
»Lassen Sie uns bei Billy bleiben«, ermahnte ich sie sanft. »Ich verspreche, ein andermal an meinen persönlichen Vermeidungsstrategien zu arbeiten.«
»Sie haben Recht. Mir sind die Pferde durchgegangen.« Sie zwinkerte mir zu. »Meine Diagnose in Bezug auf Billy«, fuhr sie fort, »basiert in erster Linie auf den testpsychologischen Untersuchungen, die wir gestern durchgeführt haben, kurz nachdem er in der Abteilung eingetroffen war.«
Testpsychologische Untersuchungen beinhalten ein Spektrum an diagnostischen Verfahren, darunter der MMPI-Persönlichkeitsfragebogen, der Bender-Gestalt-Test und die Rorschach-Serie von Tintenklecksen. Das Ziel dieser Tests besteht zum einen darin, herauszufinden, ob der Patient unter einer wie auch immer gearteten gravierenden Geisteskrankheit leidet, und zum anderen darin, seine grundlegenden Charakterzüge zu erkennen und festzustellen, wie er sich selbst sieht und wie er auf die Welt um ihn herum reagiert.
»Er hat bei den Tests kooperiert?«, fragte ich.
»Wohl kaum. Die Täuschungsskala zeigt, dass er auf viele der Fragen unwahre Antworten gegeben hat. Er hat sich so bemüht, psychologisch absolut gesund zu erscheinen, dass er kein einziges Anzeichen oder Symptom von psychischer Belastung zugestanden hat. Er bewertete seine Stimmung mit zehn von zehn Punkten. Er beharrte darauf, er könne nur fröhliche Szenen in den Tintenklecksen sehen. Kein Blut. Keine Ungeheuer. Keine Stürme. Er behauptet, er verstünde sich ›immer‹ gut mit anderen Leuten und dass sie niemals etwas täten, das ihn ärgern würde.«
»Haben die Tests auch irgendwelche brauchbaren Informationen geliefert?«, fragte ich.
»Haben sie.« Sie nahm einen zusammengehefteten Papierstapel von ihrem Schreibtisch und schlug die erste Seite um. »Das Wichtigste zuerst: Billy ist hochintelligent. Der Test ergab einen Intelligenzquotienten von 152. Damit befindet er sich im Hochbegabten-Bereich. In seinem Fall ist das sowohl die gute als auch die schlechte Nachricht.«
»Was ist das Schlechte daran?«
»Das Schlechte daran ist, dass seine Intelligenz anscheinend in einem moralischen Vakuum existiert. Es ist gut möglich, dass sie ihn einfach nur gerissener und gefährlicher macht. Beim Projektionstest waren seine Antworten hochgradig egozentrisch. Er hat Leute fast
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