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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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es diesem Fall schadet. Du kannst nicht objektiv sein, wenn du mittendrin steckst, klar?«
    Ich wusste genau, was er meinte. Persönliche Grenzen in professionellen Beziehungen zu überschreiten ist immer eine schlechte Idee. Und als Psychiater widerspricht es dem Berufsethos ganz besonders. Doch Julias Anziehung auf mich verwischte all diese Grenzen. Ich hatte große Zweifel, ob ich irgendwelche ernst gemeinten Versprechen oder Vorhersagen in Bezug darauf machen konnte, in welche Richtung sich meine Beziehung zu ihr entwickeln würde. »Du hast Recht.« Mehr sagte ich nicht dazu.
    »Und …«
    »Und ich werde versuchen, heute Abend eine Fähre zu kriegen.«
    »Du spielst mit dem Feuer, Frank.«
    »Schon verstanden.«
    Er seufzte tief. »Ruf mich an, wenn du auf der Insel ankommst.«
    »Mach ich.«
    Ich packte nur das Nötigste ein, ehe mir auffiel, dass ich angesichts der besonderen Aufmerksamkeit, die Darwin Bishop mir zuteil werden ließ, ein wichtiges Reiseutensil vergessen hatte. Ich ging zum Bett, griff hinter den Rahmen, holte meine Browning Baby hervor und steckte sie in die Vordertasche meiner Jeans. Es war lange her, seit ich eine Waffe tragen musste, doch nun war es wieder so weit.
    Als Nächstes ging ich in die Küche und schaute zu den beiden Türen des Schranks über dem Kühlschrank hinauf. Ich hatte diese Türen seit über zwei Jahren nicht mehr geöffnet und auch den Schrank nicht ausgeräumt. Eine Auswahl von Single-Malt-Whiskys stand darin und wartete auf einen Moment wie diesen, wenn wieder einmal irgendein Problem in der Welt zu meinem wurde. In dem Schrank befand sich darüber hinaus eine Taschenflasche aus abgegriffenem Sterling-Silber mit eingraviertem »FGC« auf der Vorder- und Rückseite.
Frank Galvin Clevenger.
Ich war kein Freund von Monogrammen, doch Galvin war der erste Vorname meines Vaters gewesen, und ich hatte es passend gefunden, das »G« auf einem Gefäß stehen zu haben, das den Keim unserer gemeinsamen Krankheit enthielt.
    Ich streckte die Hände aus, öffnete die Schranktüren und holte die Taschenflasche und eine Flasche zwanzig Jahre alten Glenlivet heraus. Ich schraubte die Verschlüsse von beiden Flaschen. Dann goss ich in einem Ritual, das mich an manchen Tagen an eine Transfusion, an anderen an einen Aderlass erinnert hatte, einen dünnen Strahl Scotch aus der großen Flasche in die kleine, wobei ich dem vertrauten Lied lauschte, mit dem die Flüssigkeit in den hohlen Behälter gluckerte. Anfangs war es eine dunkle, kehlige Melodie, die gegen Ende immer schriller wurde. Die Erinnerung weckte Furcht und – bedeutend unheilvoller für mich – Nostalgie.
    Ich hatte einen Platz auf der Sieben-Uhr-Fähre von Hyannis gebucht und beabsichtigte, meinen Pick-up auf dem dortigen Langzeitparkplatz abzustellen. Doch als mir der Schalterangestellte im Fährbüro erzählte, es sei ein Platz auf dem Autodeck frei geworden (ein wahres Wunder im Juni), zahlte ich freudig 202 Dollar und fuhr an Bord.
    North Anderson hatte mich auf meinem Handy angerufen und mir das Gästezimmer in seinem Haus angeboten, was ich jedoch abgelehnt hatte, da ich ihm und seiner Frau Tina nicht zur Last fallen wollte. Ohne Vorwarnung Gastgeberin spielen zu müssen, wenn man im sechsten Monat schwanger ist, dürfte nicht besonders lustig sein. Außerdem zog ich es vor, meinen eigenen Stützpunkt zu haben. Ich gab Anderson meine voraussichtliche Ankunftszeit durch und reservierte ein Zimmer im Breakers, das zum White-Elephant-Hotelkomplex an der Easton Street gehört, die an der Nordseite des Hafens von Nantucket entlangführt.
    Ich machte ein knapp einstündiges Nickerchen in meinem Pick-up, ehe ich hinaus auf das Deck trat, um frische Luft zu schnappen. Die Temperatur lag bei knapp fünfzehn Grad, was ziemlich kühl für Ende Juni war. Ich stellte mich ans Heck, atmete die Gischt ein und schaute auf das wie weiße Watte anmutende Kielwasser der Fähre. Ich fragte mich, ob Billy kürzlich dieselbe Fahrt gemacht hatte, und stellte mir vor, wie er sich ungesehen oder unerkannt auf die Insel stahl – eine bittere Ironie für einen Jungen, dem bereits seine Identität, einschließlich seiner leiblichen Eltern, seines Heimatlandes, seiner Muttersprache und seines Namens, genommen worden war. Jetzt hing sein Überleben davon ab, dass er den Rest seiner selbst aufgab, zumindest für eine Weile. Wenn sich dies zu sehr wie Sterben anfühlte, könnte er auf die Idee kommen, es tatsächlich zu tun. So seltsam es klingen

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