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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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mag, aber Selbstmord ist manchmal ein Akt, mit dem ein Mensch die Kontrolle zurückgewinnt – der letzte Versuch der Seele, sich von übermächtigen weltlichen Einflüssen zu befreien.
    Ich dachte an meine erste Therapiestunde mit Dr. James zurück. Ich hatte fünf oder zehn Minuten über eine Krankenschwester geredet, mit der ich ausging. Sie wollte eine feste Bindung, während ich mich noch nicht bereit dafür fühlte, was zu bedeuten schien, dass ich sie verlieren würde. Rückblickend war die ganze Sache von Anfang an zum Scheitern verurteilt; ich war damals in keiner Weise fähig zu einer echten Beziehung.
    James unterbrach mich schließlich mitten im Satz. »Wir haben nicht viel Zeit zusammen«, erklärte er. »Wir sollten sie nicht damit vergeuden, über eine deiner Eroberungen zu reden. Darf ich dir eine konkrete Frage stellen, damit wir endlich ernsthaft anfangen können?«
    Ich hörte auf zu schwadronieren und nickte.
    »Wann hast du das erste Mal darüber nachgedacht, dich umzubringen?«, fragte er.
    Ich saß wie benommen auf meinem Stuhl und starrte den gnomenhaften einundachtzigjährigen Mann mit dem Seersucker-Anzug und den zwei mit Türkisen besetzten silbernen Armreifen mir gegenüber an. »Wann ich das erste Mal darüber nachgedacht habe,
mich
umzubringen?«, stammelte ich verblüfft.
    Er sah auf seine Uhr, dann zwinkerte er mir zu und lächelte freundlich, fast liebevoll. »Komm schon, Frank«, sagte er. »Gib’s auf. Was hast du zu verlieren?«
    Und ich tat es. Einfach so. Das war die große Gabe dieses Mannes. Ich erzählte ihm, dass ich mit neun Jahren das erste Mal darüber nachgedacht hatte, allem ein Ende zu machen. Mein Vater hatte mich gerade verprügelt, und ich war nach oben in mein Zimmer gelaufen und hatte eine Jeans, meinen Baseball-Handschuh und mein Lieblings-Modellflugzeug in eine Sporttasche gestopft. Dann war ich wieder nach unten gegangen und in der winzigen Diele neben der Küche stehen geblieben. Es lag nur noch eine kurze Treppe vor mir, die zur Haustür führte.
    Mein Vater sah mich und kam aus der Küche. »Willst du irgendwohin?«, fragte er.
    Ich nahm all meinen Mut zusammen und starrte ihn an. »Leb wohl«, sagte ich.
    »Was soll das denn werden?«, gab er zurück.
    »Such nicht nach mir«, sagte ich, vor Angst zitternd. »Ich komm nicht zurück.«Übersetzung: Sag mir, dass es dir Leid tut und dass du möchtest, dass ich bleibe und dass alles anders werden wird, wenn ich es tue.
    Er lachte mich aus. »Dann geh doch«, sagte er. »Du willst hier den großen Mann spielen? Du willst nicht mehr hier wohnen? Dann hau ab.« Er ging zurück in die Küche.
    Ich sah zu meiner Mutter, die das Abendessen zubereitete. All die Jahre, die sie tatenlos dabeigestanden hatte, wenn mein Vater seine Brutalität an mir ausließ, hätten wettgemacht werden können, wenn sie den Mut gehabt hätte, mir in diesem Moment beizustehen. Doch sie rührte sich nicht, sagte kein Wort.
    In Wahrheit konnte ich nirgendwohin. Ich war neun und hatte mich noch nie so hilflos gefühlt. Ich ließ meine Tasche fallen, rannte in mein Zimmer und weinte. Und ich brütete den Plan aus, zu warten, bis meine Eltern schliefen, und dann den Gürtel meines Vaters als Schlinge zu benutzen, um mich damit an dem Haken an der Badezimmertür zu erhängen.
    Zwei Dinge hatten mich auf dieser Welt gehalten. Zum einen mein bester Freund Anthony, der im Klassenzimmer hinter mir saß und die unheimliche Fähigkeit besaß, meine Sätze zu beenden. Das andere war meine zwei Jahre alte Schildkröte Seymour, die zweifelsohne eingehen würde, wenn ich sie allein bei meiner Mutter und meinem Vater zurückließ.
    Ich wischte mir die Gischt vom Gesicht und atmete tief die Atlantikluft ein. Inzwischen schien es noch kälter geworden zu sein. Ich griff in meine Tasche, holte meine Taschenflasche heraus, schraubte den Verschluss auf, hob das Metall an meine Lippen und trank einen Schluck.
    Als die Fähre schließlich den Nantucket-Sund erreichte und ich zu meiner Rechten Martha’s Vineyard und die Silhouette des Cape-Pogue-Leuchtturms auf Chappaquiddick Island ausmachen konnte, hatte ich etwa ein Drittel des Scotchs intus. Etliche Schlucke mehr liefen meine Kehle hinunter, während wir zwischen die beiden Molen glitten, die die Einfahrt in den Hafen von Nantucket schützen. Und als wir schließlich am Brant-Point-Leuchtturm vorbei auf die Kaianlage zuhielten, war die Taschenflasche leer. Ich hielt sie ins Mondlicht und fixierte das

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