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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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Hallissey, eine bekennende Lesbe, war um die dreißig, höchstens einsfünfzig groß und brachte rund 120 Kilo auf die Waage. Ihr Gesicht mochte irgendwann einmal hübsch gewesen sein, doch mittlerweile waren ihre Züge aufgedunsen. Sie trug einen Silberring in ihrem rechten Nasenflügel und eine winzige Silberhantel über ihrer linken Augenbraue. Ich hatte gehört, sie und ihre Lebensgefährtin hätten gerade eine Tochter adoptiert. »Kann ich Sie kurz sprechen?«, sagte sie.
    »Natürlich«, antwortete ich.
    Ich muss so mies ausgesehen haben, wie ich mich fühlte. »Fehlt Ihnen etwas?«, erkundigte sie sich.
    »Alles bestens. Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich hatte ein Gespräch mit dieser Frau auf der Intensivstation. Julia Bishop, richtig? Sie haben mit dem Fall zu tun, stimmt’s?«
    »Stimmt«, bestätigte ich. »Welchen Eindruck hatten Sie?«
    »Sie ist depressiv, so viel steht fest«, erwiderte Hallissey. »Es gibt eine Fülle an neurovegetativen Anzeichen. Schlafmangel. Appetitmangel. Konzentrationsprobleme. Geringes Selbstwertgefühl. Die Symptome waren unmittelbar nach der Geburt ihrer Zwillinge sogar noch ausgeprägter, aber sie verweigert jegliche Form von Behandlung.«
    »Sie macht eine schwere Zeit durch, deshalb kann sie nicht in Ruhe über sich selbst nachdenken«, wiegelte ich ab.
    »Klar«, pflichtete sie bei. »Ich will sie zu nichts zwingen. Sie ist nicht selbstmordgefährdet, zumindest nicht im klassischen Sinn – sie hat nur angedeutet, sie könne nicht weitermachen, wenn ihre Tochter sterben sollte.« Sie hielt kurz inne. »Was mir wirklich Sorgen gemacht hat, war die Feindseligkeit, die von ihr auszugehen scheint.«
    »Inwiefern?«
    »Sie hat mir eine Menge Fragen zu meinen Referenzen gestellt. Welches College ich besucht habe. Wo ich Medizin studiert habe. Wer meine Arbeit mit Patienten beaufsichtigt. Sie wollte wirklich alles wissen.«
    Ich fragte mich, ob dies irgendetwas mit Hallisseys Äußerem zu tun haben könnte. »Sie steckt mitten in einer Mordermittlung«, sagte ich. »Sie weiß nicht, wem sie trauen kann.«
    »Das könnte durchaus damit zu tun haben«, pflichtete Hallissey bei. »Aber auf mich wirkte es bedeutend persönlicher. So als ob sie etwas gegen
mich
hätte.« Sie wandte den Blick ab und runzelte die Stirn, während sie nach Worten suchte, um ihre Unterhaltung mit Julia zu beschreiben. »Sie hat mir dasselbe Gefühl vermittelt, das ich oft von männlichen Patienten zu spüren bekommen habe, die keinen Respekt vor Ärztinnen haben. Und die dafür sorgen wollten, dass ich das merke.«
    »Nicht jede Psychiater-Patient-Beziehung ist im Himmel geschlossen«, wandte ich ein.
    Hallissey musterte mich durchdringend. »Ich möchte Ihnen nicht auf den Schlips treten, aber es klingt nicht so, als wollten Sie das hier hören. Vielleicht ist es kein guter Zeitpunkt, um zu reden.«
    Ich schüttelte den Kopf. Hallissey hatte Recht. Ich hatte automatisch Vorbehalte gegen ihren negativen Eindruck von Julia. »Ich will es hören«, versicherte ich. »Bitte. Erzählen Sie mir, was Ihnen sonst noch aufgefallen ist.«
    Sie zögerte.
    »Ich bin ganz Ohr«, sagte ich.
    »Vielleicht ist es ihre Art, mit Frauen umzugehen«, sagte Hallissey. »Ich meine, ich habe gesehen, wie herzlich sie Dr. Karlstein gegenüber ist. Und Sie selbst scheinen auch keinerlei Probleme mit ihr zu haben. Aber einige der Schwestern auf der Intensivstation haben mir erzählt, sie würde sie wie Leibeigene behandeln. Sie haben ein sehr ungutes Gefühl, was sie angeht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Sie war angeblich früher Model, ist das richtig? Jemand hat die
Elite
-Agentur oder wie auch immer erwähnt.«
    Das Wort
angeblich
war nicht zu überhören. Ich fragte mich, ob Eifersucht Hallisseys therapeutische Objektivität trübte. Psychiater nennen das
Gegenübertragung
 – die persönlichen Gefühle des Arztes werden reflektiert, als entstammten sie dem Innenleben des Patienten. »Sie war Model«, erklärte ich, ehe ich es noch weiter auf die Spitze trieb, um Hallisseys Reaktion auszuloten. »Ich glaube, sie war sogar sehr erfolgreich. Fotos auf den Titelseiten der
Cosmo
und
Vogue
und all das. Sie war groß im Geschäft.«
    »Selbstverständlich war sie erfolgreich«, entgegnete Hallissey. »Sie ist ein klassischer Fall. Sie sieht fantastisch aus, besitzt aber keinerlei fundiertes Selbstwertgefühl. Sie existiert für Männer. Sie braucht es, dass sie sie anbeten, weil sie sich selbst hasst. Und deshalb hat sie

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