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Infanta (German Edition)

Infanta (German Edition)

Titel: Infanta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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Ende; außerdem erwartet mich der Bischof. Wo bist Du? Hörst Du mich? Noch ein einziger Satz. Hier ist meine Seele, suche mich hier. Mayla.«
    Augustin biß die Zähne zusammen. Sein Mund war trokken, sein Haar war naß. Er faltete die vierzehn Seiten wieder, schob sie vorsichtig in den Umschlag zurück und wünschte, er hätte sie nie gelesen. Dem Leben hatte er Geheimnisse entrissen, die er mit keinem teilen konnte. Nur was ihn betraf, schien kein Geheimnis – ein nicht gerade mönchischer Junge war er also, mit Spaß an Platten; später als Priester zwar beliebt, aber unglücklich, wie Gussmann. Offenbar stand es nicht gut um ihn. Augustin sah auf. Der Nachmittagsunterricht fing bald an. Menschenkunde; Father Demetrio, zweimal fünfzig Minuten ex tempore ohne Punkt und Komma. Und während der ganzen Zeit dieser Blick hinter jede Stirn. Er würde ihm ansehen, daß er einen Brief geöffnet hatte. Ja, sogar wissen, von wem dieser Brief stammte und wie sehr er ihn noch immer bewegte. Demetrio hatte ihm ja auch auf den Kopf zu gesagt, man hat dich wegen öffentlichen Singens aus Infanta relegiert – aber gesungen hast du, weil du auf dem Weg zu den Frauen bist! Und natürlich würde er die Herausgabe des Briefs verlangen, von Einbruch in ein fremdes Seelenhaus sprechen und ihn zum Privatissimum bestellen. Zu einer jener Sitzungen, in der man auf jede verdeckte Schwäche und Neigung abgeklopft wurde, vom heimlichen Vergnügen in Menschenketten bis zum Genuß samenvermehrenden Senfs. Und von Baum zu Baum eilend wie ein Soldat unter Feuer, stahl sich Augustin vom Gelände. Vertrauen hatte er mißbraucht, was zählte da noch ein Schülervergehen. Er schob den Umschlag unters Hemd und knöpfte es, trotz feuchter Hitze, bis obenhin zu. Dann sprang er auf ein Jeepney, das in die Gegend der großen Hotels fuhr.

W er an diesem Nachmittag die halbe Stadt durchqueren mußte wie der Novize, war bis zum Anbruch der Dunkelheit unterwegs. Panzer blockierten die Kreuzungen, unzählige Sammeltaxis drängten sich in den Straßen; die Menschen hingen in Trauben am hinteren Einstieg oder saßen auf der Kühlerhaube. Kam der Verkehr zum Erliegen, eilten viele zu Fuß weiter. Es war, als seien Hunderttausende beauftragt, jemanden zu suchen. Jeder schien jederzeit bereit, alles stehen- und liegenzulassen. Zeitungsjungen ihren Packen, Droschkenkutscher ihren Gaul, Krüppel ihren Bettelbecher, Straßenmädchen ihre Kunden, Priester ihre Gotteshäuser. Immer wieder wurden irgendwo Glocken gezogen, immer wieder hieß es, der Präsident sei bereits auf der Flucht, und Kinder, die Lebende Mauer spielten, hoben schelmisch ihre Leibchen mit dem Kopf des Diktators. Fernsehleute redeten von Bildern des Jahres; Sprachforscher hatten Lebende Mauer schon zum Begriff des Monats erklärt.
    Tag und Nacht trennte der Menschenkeil die Verbände der Meuterer von regierungstreuen Truppenteilen. Jeder Schußwechsel hätte ein Blutbad bedeutet. Schauplatz der Nervenprobe war ein erhöhtes Straßenstück, das über Schwemmland und Elendsgebiete führte, für die Berichterstattung nicht ungünstig. Natürlich mußte noch etwas getan werden. Lichtmasten wurden errichtet, Leitungen verlegt, Aborte installiert, Unterstände und Plattformen gebaut; beide Parteien waren behilflich. Nur mit vereinter Kraft konnte die Übertragung beginnen, wenn das Gemetzel begann. Kleine bewegliche Gruppen drehten Vorberichte. Während amerikanische Korrespondenten gern etwas Krieg zeigten, fingen die Deutschen mit Vorliebe Bilder des Elends ein. Von Scheven und seine Männer hatten die Hüttengebiete auf dem Schwemmland durchkämmt und waren allen Hinweisen auf Kinderprostitution, Hunger und Schmutz nachgegangen. Zahlreiche Anwohner zeigten inzwischen Allüren. Sie legten sich Phantasienamen zu, handelten Gagen aus und sammelten sich zur Hauptnachrichtenzeit unter dem höchsten Punkt der Überführung. Vor laufenden Kameras reichten sie mit Hilfe von Stangen Reis- und Wasserbeutel nach oben, nahmen Abfälle und Kanister mit Exkrementen entgegen und unterstützten die Ausharrenden später durch Tanz und Gesang.
    »Sie sind der Chor«, bemerkte Elisabeth Ruggeri zu Kurt Lukas und zog noch mehr Parallelen zum Theater, während beide in den Malstrom der Mauer gerieten, bis nur noch ihre Köpfe aus einem Meer von schwarzem Haar ragten; mit dem Argument, etwas Einmaliges zu versäumen, hatte sie ihn zu dem Ausflug überredet, und nun erinnerte das Ganze an ein Freiluftkonzert. Als das

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