Infanta (German Edition)
wie schon erwähnt, Zeichen von Schwermut. Er fragt nach der Uhrzeit. Er steht mitten am Nachmittag unentschlossen im Flur. Er geht ohne Grund in die Gästekammer, angeblich, um zu lüften. Er blättert bei den Russen. Er zitiert Teresa von Avila, Die Liebe ist hart und unerbittlich . . . Er wittert überall Konterrevolution. Man sieht ihn in Gesellschaft von Taubstummen. Er vernachlässigt seinen Schnurrbart. Er verspricht sich (aus Ovid wurde Video). Er ißt kaum. Er glaubt, die Hündin würde das Gebären nicht überleben. Er streicht durch den Garten und sucht eine Grabstelle. Er langweilt sich. Ich berichte das so offen, weil jeder von uns Zeichen einer Schwäche zeigt, seit Mayla und Mister Kurt das Haus verlassen haben. Horgan klagt zum ersten Mal über sein Los. Dalla Rosa steigert sich in die Vorstellung, sein Leben sei gescheitert, wenn er am Ordnen unserer Bücher scheitere. Pacquin wird seltsam, er will, daß wir uns nur noch aus seinem Gärtchen ernähren. (Dabei tut Flores ihr Bestes – sie bewirbt sich darum, im Falle von Gussmanns Tod Maylas Stellung bei uns einzunehmen.) Und ich selbst verliere mich in Träumen von literarischem Ruhm, in einem Wahn von einer Lebenskrönung, dem eigentlichen Gipfel, den ich noch erstürmen könnte – ein Zweiundachtzigjähriger mit Illusionen. Ich weiß, daß Erfahrung und Kraft nur kurze Zeit Hand in Hand gehen, für ein, zwei Jahre in den frühen Vierzigern, und trotzdem glaube ich, mir stehe diese Zeit noch bevor. Habe ich meinen Verstand verloren, Bruder? Ich möchte einen Liebesroman schreiben – nun ist es heraus; einer Frau sein Begehren zu gestehen kann nicht schwerer fallen. Was ist nur in mich gefahren? Und warum kam mir dieser Wunsch nicht früher? Ich vermute, ich konnte ihn jetzt erst entwickeln, da seine Erfüllung unmöglich ist. Ich weiß, was ich erzählen möchte, doch fehlt mir der Mut dazu. Wenn ich daran denke, was ich außer Missionar noch hätte sein können, wird mir schwindlig. Ich gestehe, ich liebe das Leben zu sehr, um mich mit einem Lebenslauf abzufinden. Mit dem Tod ja; ihn begrüße ich, er setzt ja dem Sehnen ein Ende. Aber mit mir selbst finde ich mich nicht ab, etwas, das sich im Alter doch geben sollte. Hätte ich nicht Christus gewählt, sondern eine Frau, mir wäre wohl kaum die Treue gelungen. Ich muß das geahnt haben. Doch das Problem ist geblieben. Mein Ehebruch vollzieht sich mit mir selbst. Ich dachte immer: Wissend, was ich tue und warum ich es tue, ginge ich allmählich auf das zu, was ich sein werde. Und nun denke ich diesen Gedanken zum ersten Mal mit dem Wort Unwissend am Anfang. Ich habe das alles noch nie so klar gesehen wie im Moment, und womöglich sollte dies besser der Beginn eines Buchs sein als der Schluß eines Briefs, überlege ich gerade und merke, daß es ernst wird . . .« Der bleiche Priester stand auf und ging aus der Kammer.
Er mußte etwas trinken. Früher, plötzlicher und heftiger als sonst hatte ihn der Nachtdurst befallen. Butterworth nahm seinen Kanister aus dem Kühlschrank und ließ sich das Eiswasser in den Mund laufen, benetzte sich das Gesicht, bespritzte seine Leibwäsche und stöhnte vor Erleichterung. So lautlos er dieses Durststillen und Abkühlen in anderen Nächten betrieb, so unüberhörbar waren jetzt seine Wasserspiele. Er gab sich größte Mühe, nicht allein zu bleiben. Und als McEllis schließlich mit den Worten »Sind Sie es, Mister Kurt?« durch den Gang kam, nahm er sich rasch einen Stuhl, saß auch schon nachdenklich am Tisch und erwiderte, »Ich bin es.« Mit seiner ganzen Haltung – mit allem, was unterhalb einer Bitte lag – suchte er ein Gespräch. Aber McEllis fragte nur nach der Uhrzeit.
Butterworth ging dann nicht mehr ins Bett. Er wartete den ersten Sonnenstrahl ab, der seinen Geist immer wieder auf die Erde zurückholte, so auch an diesem Tag. Während er Morgentoilette machte, hatte er gleich drei vernünftige Ideen. Er würde sich dafür verwenden, daß Flores schon jetzt Maylas Posten zugesprochen bekam, damit die ungute Nachfolgefrage aus der Welt war. Er würde McEllis aus seinem Zustand befreien, ihm vorschlagen, Mister Kurts römische Anschrift zu ermitteln und dem Herrn vielleicht zu schreiben. Und vorsichtshalber würde er eine Grabrede auf Wilhelm Gussmann aufsetzen.
A ber noch lebte der frühere Priester. Obwohl er seit dem Umsturz neben Fieber auch Schwindel anfälle und Gelenkschmerzen hatte – in jener Nacht war auf Infanta der erste
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