Infanta (German Edition)
der Durchreiche; Gussmanns Martyrium begann. Das mag für den Moment genügen, Lukas. Und jetzt sage mir, ob ihr beide zusammenpaßt. Oder ist sie dir überlegen? Ihr Wissen und ihre Nüchternheit werden dich niederdrücken. Stelle dir vor, du nimmst sie nach Rom mit und läufst mit ihr zum ersten Mal über den Corso. Und von Anfang an hat sie dieses Gefühl für das Enttäuschende der Prachtstraßen. Wir haben sie erzogen, Lukas, wirst du das aushalten? Wie geschliffen darf eine Frau neben dir sein? Wie stark? Wie klug . . .
Bis die Morgenspatzen pfiffen, lag Butterworth wach und formulierte immer neue Fragen. Fragen an Maylas Geliebten, dessen gutes Aussehen ihm manchmal unheimlich war, als sei es die Kehrseite eines Entstelltseins. Fragen auch an ein Leben, das er nur vom Hörensagen kannte, das Liebesleben, das wie ein zweites, die Grenzen seiner Sprache überschreitendes Dasein neben dem eigenen Leben bestand. Um nicht mutlos zu werden, rasierte sich Butterworth und ging zur Terrasse. Dort traf er die anderen. Bewegt von dem, was auf sie zukam, hatten auch sie keinen Schlaf gefunden. Nach eineinhalbjähriger Abwesenheit würde Gregorio als gewöhnlicher Fluggast übermorgen auf der Insel landen, erwartet nur von zwei Personen und einer Hündin.
S ie hatten keine Eile. Die Maschine mit Father Gregorio sollte erst gegen drei Uhr nachmittags, aus der Hauptstadt kommend, in Cagayan landen, und sie waren vor Beginn der Hitze aufgebrochen. Kurt Lukas steuerte den Jeep. McEllis strich sich über seinen frisch gestutzten weißen Schnurrbart. West-Virginia schlief auf dem Rücksitz. Die Hochebene lag hinter ihnen; sie fuhren an den kahlen, mit Asche gepuderten Hängen vorbei. Es war windstill. Lange unbewegte Schleier kreuzten den Himmel, und eine gleichmäßige Grelle lag auf den niedergebrannten, von der Sonne überwältigten Flächen. Der Straßenteer kochte.
»Wußten Sie, daß ich aus einer Farmerfamilie mit zwölf Kindern stamme«, sagte McEllis auf einmal und holte damit zu einer Geschichte aus, die er eigentlich mit ins Grab nehmen wollte. »Drei wurden im Februar geboren. Zwei im April, zwei im August. Eins im September, eins im Oktober. Zwei im November. Und ich am Silvestermorgen. Ein Nachzügler, der unter erfahrenen Eltern und abenteuerlustigen Geschwistern aufwuchs. Unser Land lag an einem kleinen See, in dem es Fischotter gab. Im Sommer duftete es dort nach Harz, und das Wasser war warm. Im Herbst brachen wir über die Farben von Laub und Himmel in Jubel aus. Wahrscheinlich zähle ich zu den hundert Erdbewohnern mit glücklicher Kindheit. Mir wurde das sehr früh bewußt, und ich entwikkelte den Wunsch, diesen Vorschuß zurückzuerstatten. Ich wollte Missionar werden. Nach dem College wechselte ich in die Stadt. Während der ersten Jahre als Seminarist zehrte ich von meiner Kinderseele. Ich lebte träumend in den Tag, ein herrlicher Zustand der Unschuld. Meine große Prüfung, Mister Kurt, kam spät.« McEllis stöpfte sich die Pfeife, aber rauchte nicht. »Ich war bereits Ende Zwanzig und wollte mehr denn je Menschen bekehren, als mich das Unerwartete an einem elften Januar gegen sieben Uhr abends traf. Es war längst dunkel, und der Wind wehte ein feines Schneegestöber vom Gehsteig auf. Ich kam an der Buchhandlung vorbei, in der ich meine Theologiebücher kaufte, und wunderte mich, daß die Auslage leer war und doch erleuchtet. Ich blieb stehen, das erschien mir natürlich. So wie jeder Mensch vor einer Bühne stehenbleibt, in der Hoffnung, gleich einen anderen Menschen zu sehen. Und da teilte sich auch schon für eine Sekunde der Vorhang, der die Auslage vom Verkaufsraum trennte, und jemand stellte einen Stapel Bücher ins Fenster; ich sah nur zwei schlanke Hände und trat hinter einen Baum. Gerade noch rechtzeitig. Denn nun ging der Vorhang auf, und eine junge Frau erschien. Ich kannte sie nicht. Sie streifte ihre Schuhe ab und stieg in die Auslage. Und als sei sie ganz allein in einem Zimmer, begann sie, das Schaufenster zu dekorieren. Nach den populären Titeln aus der Weihnachtszeit kamen jetzt wieder anspruchsvolle Werke in die Auslage. Ich könnte Ihnen sämtliche Bücher nennen, Mister Kurt, die an diesem kalten Januarabend ihren Platz erhielten. Sie stellte sie immer paarweise zusammen, und jede dieser Paarungen erschien mir gelungen. Ab und zu sah sie nachdenklich nach draußen, und ich schämte mich, sie so heimlich zu beobachten. Aber wie unter Zwang blieb ich regungslos stehen –
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