Infanta (German Edition)
von der Hausordnung, zum Beispiel der lebhafteren Stunde des Drinks mit Themen wie Begehren oder Leidenschaft; wußte von der gedeckten Hündin und dem wirren Leseverhalten des Gastes, von Kurt Lukas’ Vorlieben und den Bemerkungen dazu – besaß aber auch eine Information, daß sein Name gefallen sei, ohne Bitterkeit, eher mit einem Ton des Bedauerns, ja, daß ausgerechnet Butterworth, dessen Bann ihn am schmerzlichsten getroffen hatte, dem Namen hinzugefügt haben soll: unser Bruder.
Das alles bewegte Wilhelm Gussmann tagsüber, während er in seinem Laden stand und Ordnung in einen Pakken Heftchen brachte, günstige Konkursware, wie sie ihm Durchreisende ab und zu anboten. Diesmal handelte es sich um zweihundert verschossene, aber noch in vollem Umfang erhaltene Hefte, die er nach den Kategorien Erste Liebe, Drama, Weltall und Grauen sortierte. Eine angenehme Tätigkeit. Er erledigte sie nebenbei und schien doch beschäftigt; ungestört konnte er allen Gedanken nachhängen, besonders den traurigen. Gussmann spürte an diesem Nachmittag seine verbrauchten Organe und dachte ans Sterben. So deutlich, wie er den Feierabend mit Flores sah – er würde bei offenen Augen schlafen, sie ihn bei geschlossenen kraulen –, sah er sein Ende: im März. Den Februar konnte er sich noch als ganzen Monat vorstellen, den März nur mehr als halben. Also vor April, sagte er sich, und etwa um diese Tageszeit, kurz nach drei. Und rasch, aber unangenehm, als stieße man mir einen Nagel ins Herz, dachte er plötzlich auf deutsch.
Wilhelm Gussmann dachte in drei Sprachen. Alle gewöhnlichen Gedanken machte er sich auf cebuano, alle erhebenderen auf englisch, alle bedrückenden auf deutsch. Er hing an seiner Muttersprache, weil sie immer da war, wenn er sie brauchte, wenn er lesen oder sich erinnern wollte, und er haßte sie, weil sie ihn niemals in Frieden ließ, sich auch meldete, wenn er sie nicht brauchte, und einen harmlosen Gedanken durch ein einziges Wort in die Tiefe zog; sie geisterte durch seine Träume oder sickerte einfach aus ihm heraus, unverständlich für andere und peinlich für ihn. Das Reich seiner Kindheit hatte er mit Zwanzig verlassen; vor mehr als einem halben Jahrhundert war er dort Sympathisant zweier Reformparteien und Hospitant eines dadaistischen Zirkels gewesen; nacheinander hatte er sich in alles gestürzt, was radikal war, sogar in ein Medizinstudium mit dem erklärten Ziel, Chirurg zu werden. Vor lauter Begeisterung für dieses Ziel war er später durch die Hauptprüfung gefallen; in dieser Zeit hatte eine unglückliche Affäre die andere gejagt, und so genügte, anläßlich der Beerdigung seines Vaters, ein vielversprechender Blick von Onkel Heinrich aus El Paso, Texas, um Gussmann mit zwei Bierhumpen und dreißig Büchern im Gepäck auswandern zu lassen.
Unterstützt von Henry C. Gussman, der als tüchtiger und frommer Mensch eine Druckerei besaß, in der Broschüren der Gesellschaft Jesu für Texas und Neumexiko hergestellt wurden, fand Wilhelm Gussmann – nicht bereit, für eine weltliche Karriere in Amerika seinen Namen um ein N zu verkürzen – zur Theologie. Schon wieder in unglückliche Affären verwickelt, sah er in der Priesterlaufbahn einen Weg, sich sinnvoll über die Frauen zu erheben. Dem Orden war er nach zehnjährigem Studium in Santa Fé beigetreten, als Mann von Mitte Dreißig, der nur einen Gedanken verfolgte, Missionar zu werden. Alles, was er vom Leben verlangte, waren Abenteuer ohne Frauen. Mit der Flasche Mosel im Rucksack, die ihm Onkel Henry als letzte Wohltat zugesteckt hatte, traf Gussmann nach Kriegsende auf der Großen Südinsel ein, über alles Erdenkliche in dem tropischen Land informiert, nur nicht über die Schönheit der Mädchen. Aus seinem Pfadfinderabenteuer wurde bald das alte Ringen mit sich selbst. Wie kaum ein anderer stürzte er sich in die Bekehrungsarbeit, am Ende kamen über eintausendfünfhundert Taufen auf sein Konto. Unterdessen hatte er ein dutzendmal den Glauben verloren, ihn aber stets wiedergefunden: sobald die Frau von ihm getraut worden war, die seine Krise ausgelöst hatte. Die Bewahrung der Keuschheit in diesen Jahren kostete ihn mehr Kraft als alle Kämpfe gegen Geisterglauben, Korruption und Armut; ein Nebenergebnis dieses Ringens war die Radiostation. Der Gedanke an eine Eroberung des Äthers über Infanta hatte vorübergehend etwas Rauschhafteres als alle Gedanken an die Liebe, und der Tag, an dem der vierzig Meter hohe Sendemast errichtet
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