Infektiöse Visionen (German Edition)
mit den Kabeln herum, die aus seinem Karton heraushingen.
„ Sie sieht nur etwas mehr als andere Menschen.“
„ Genau wie du“, sagte er leise. „Deshalb wundert es mich ja um so mehr, dass du...“
„ Was?“
„ Ich glaube, du bereust es inzwischen.“
„ Tu ich nicht.“
„ Es ist auch nicht für lange, versprochen. Notfalls verklage ich meinen Vater. 250 Mark im Monat, das ist einfach so was von...“
Er machte ein Geräusch, das ausdrückte, wie angeekelt er war.
„ Du kannst bleiben, so lange du willst.“
„ Das Beste für uns alle wäre es, wenn ich so schnell wie möglich auf die andere Seite des Erdballs verschwinde.“
„ Wieso?“
Er zuckte mit den Schultern.
„ Hab ich einfach so im Gefühl, keine Ahnung. Ein Instinkt, dass sich was Furchtbares anbahnt. Aber was mich hier hält, ist einfach viel stärker. Es kommt mir vor als sei es regelrecht inszeniert, dass ich kein Geld habe, um abzuhauen.“
Ich spürte einen leisen Triumph, der eigentlich nicht meiner war.
„ Wenn du wirklich abhauen wolltest, wäre Geld nicht das Problem“, sagte ich, und es war, um ihn zu provozieren, ihn seine Machtlosigkeit spüren zu lassen. „Du könntest dich einfach auf dein Fahrrad setzen.“
„ Ts!“, machte er. „Und wie weit würde ich kommen, bis ich betteln müsste, um nicht zu verhungern?“
Ich lächelte ihn an, tröstend, siegreich, triumphierend.
„ Dann sparst du dir was zusammen. Wie gesagt – du kannst bei mir jobben.“
„ Gemüse schälen und so?“
Er grinste scheu zurück, unschuldig, nichts ahnend – in die Falle getappt.
„ Alles, was ich auch mache. Du wirst sehen, das macht Spaß.“
Ich schüttelte das frisch bezogene Kissen auf und schämte mich für das, was ich tat. Dafür, dass ich nicht stark genug war, es zu verhindern. Sebastian wurde ernst.
„ Sag mir, was dich im Hausflur so erschreckt hat. Als du mich abgeholt hast.“
„ Ich glaube, du weißt das ganz genau.“
Er nickte, stand auf, drehte sich um und sah zum Fenster hoch.
„ Vera?“
„ Ja?“
„ Das Ding hat Angst vor deiner Mutter, kann das sein?“
„ Welches Ding?“
„ Du weißt schon. Es wollte eigentlich nicht hierher, aber andererseits braucht es euch für irgendwas. Manchmal...“
„ Was?“
„ Manchmal weiß ich, was es denkt. Es hat ein ganz bestimmtes Ziel und braucht dafür Marionetten. Myriam wäre ihm am liebsten gewesen, aber die hat sich schlicht verweigert. Ihr seid auch nicht ideal. Deine Mutter kann ihm sogar gefährlich werden, aber ihm läuft die Zeit davon, und so nimmt er es als Herausforderung, es mit euch zu versuchen.“
Ich antwortete nicht, sah ihn auch nicht an, sondern schüttelte die Bettdecke auf. Sebastian sollte nicht sehen, wie erschüttert und entsetzt ich war, wie gelähmt und amüsiert zugleich, ihn wissen aber nicht eingreifen zu lassen. Das Ding begleitete nicht nur ihn, sondern auch mich. Es las und lenkte nicht nur seine, sondern auch meine Gedanken. Der einzige Unterschied war: Ihn als die Hauptfigur hatte es in der Hand mit etwas, das ihm ungeheuer wichtig war, auch wenn er seine Abhängigkeit selbst nicht ganz durchschaute. Ich indessen war nicht erpressbar und hätte mich wehren können. Hätte ich?
„ Hat das Ding denn auch Angst vor mir?“, fragte ich und klang kratzig. Sebastian schüttelte den Kopf.
„ Dich hält es für den unterhaltsamsten seiner Akteure, ein Hindernis, das leicht zu nehmen war, obwohl es oberflächlich betrachtet uneinnehmbar schien. Das Bild, dass du die Treppe nicht ganz hoch kommst, hab ich schon heute früh beim Aufwachen gesehen.“
Ich bekam eine Gänsehaut und fuhr mir rasch mit den Händen über die Unterarme.
„ Es sieht in die Zukunft?“
Er nickte.
„ Und zeigt dir vorher Bilder von dem, was dann passiert?“
Er schüttelte leicht den Kopf.
„ Das war eigentlich das erste Mal, und es war eher wie ein Traum. Vorher stand manchmal was in einem Buch im Wald.“
„ Ein Buch im Wald?“
„ Ja.“
Er atmete ein, stieß die Luft aus und schaffte es mit einer heftigen Willenskontraktion, er selbst zu werden. Als würde eine dunkle Wolke die Sonne freigeben, so verließen auch mich alle unheilvollen Anwandlungen, und mein Kopf dachte wieder seine eigenen Gedanken. Ich fühlte mich so befreit und erleichtert, dass ich überzeugt war, alles sei ganz plötzlich ausgestanden. Sebastian schaute mich verwundert an und fragte:
„ Was reden wir hier überhaupt? Vielleicht bin ich auch einfach
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