Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Infektiöse Visionen (German Edition)

Infektiöse Visionen (German Edition)

Titel: Infektiöse Visionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
Vom Netzwerk:
sich nähernde Person alarmiert. Es gab im Treppenhaus kein Versteck.
    Also stopfte ich mir das quadratische, in dunkelrotes Leder gebundene Büchlein hinten in den Hosenbund, zog das Sweatshirt darüber, räusperte mich laut, verursachte schnelle Schritte im Stehen, um ein Herabkommen vom zweiten Stock zu simulieren, bevor ich die ersten Treppenstufen hinunter zum Erdgeschoss nahm. Auf halber Treppe verbaute mir Clarissa den Weg. Sie schnaufte heftig, starrte mich durch ihre riesige getönte Brille an wie ein fettes schwarzes Insekt und stemmte die Fäuste in die Hüften.
    „ Wo kommst du denn her?“
    „ Ich äh...“
    Mit dem Daumen deutete ich hinter mich und bemühte mich um ein neutrales Gesicht.
    „ Ich hab die Kaffeekanne zurückgebracht.“
    Clarissa nickte nur, starrte mich an und schnaufte wie ein Pferd.
    „ Vor allem aber hätte ich gern mal mit Ihnen gesprochen. Natürlich nur, wenn Sie Zeit haben.“
    „ Jetzt gleich?“
    Ich nickte verneinend.
    „ In fünf Minuten. Ich würde nur vorher schnell...“
    „ Was?“
    Das Tagebuch im Bund meiner viel zu engen Jeans drückte mir die Luft ab.
    „ Aufs Klo.“
    Sie schüttelte den Kopf.
    „ Verkneif’s dir. Entweder sofort oder morgen. Ich hab in einer halben Stunde noch eine Klientin.“
    „ Also dann eben sofort.“
    „ Na los.“
    Sie machte eine scheuchende Handbewegung, dass ich vorausgehen solle. Ich tat so als interpretiere ich die Geste als Aufforderung, ihr Platz zu machen, drückte mich zur Seite mit dem Rücken an die Wand und wartete, bis sie sich mit einem Schulterzucken in Bewegung setzte.
    Clarissa war zwar alles andere als schlank, aber die Mühe, die es ihr bereitete, Treppe zu steigen, ging doch weit über das hinaus, was ihr Körpergewicht ihr hätte hinderlich sein müssen. Es kam mir vor, als schleppe sie außer ihrer Wampe noch einen unsichtbaren Kartoffelsack auf dem Rücken. Bei diesem Schneckentempo war es beinahe unerklärbar, nicht voraus zu gehen, zumal es ihr sichtlich unangenehm war, dass ich mich hinter ihr hielt und ihre Mühsal vor Augen hatte.
    „ Jetzt geh schon vor!“, keuchte sie.
    „ Kein Problem“, winkte ich ab und hielt mich schräg hinter ihr. „Haben Sie Schmerzen?“
    „ Es sind die verdammten Gelenke. Vermutlich die Gicht oder Rheuma.“
    „ Vermutlich?“
    „ Was soll die Frage?“
    Wir erreichten den ersten Stock, und ich überlegte schon, das Tagebuch mit einer schnellen Bewegung auf der Treppe abzulegen. Aber was, wenn Vera zurückkäme, während ich in Clarissas Wohnung war? Es war überhaupt ein heller Wahnsinn, das Buch zu nehmen, was hatte mich nur getrieben?
    Na was wohl!
    In dem Moment erst begriff ich, dass es wirklich noch nicht vorbei war. Noch immer tat ich Dinge, die ich selbst nie getan hätte, und ich merkte nicht einmal, dass ich sie tat. Und da endlich kapierte ich noch etwas: Schon die erste Absonderlichkeit dieser Geschichte, mein Barfuß-Abenteuer im Schnee, war nicht mein freier Wille gewesen. Ich war damit in die Falle gelockt und zu einer Gegenleistung gezwungen worden.
     

    „ Sie haben mir geraten...“
    „ Wann?“
    „ Was?“
    „ Wann habe ich dir was geraten?“
    „ Als mich Vera zu Ihnen gebracht hat und mit Ihnen über meine Aufzeichnungen reden wollte. Sie sagten...“
    „ Ich weiß schon noch, was ich gesagt habe. Und jetzt willst du wissen, warum es nicht funktioniert hat?“
    „ Na ja. Es ist ja nicht so, dass ich überhaupt die Chance gehabt hätte, es zu versuchen. Ich mache einfach verrückte Dinge und merke nicht mal, dass ich sie mache. Wie soll ich da mich verweigern können?“
    Sie schnaufte tief ein und aus. Wir saßen an ihrem magischen Tischchen mit der Kristallkugel. Sie bestand darauf, alles, was nicht privat war, an diesem Ort zu besprechen. Aber was war schon privat in Clarissas Leben? Alles, was sie tat und sprach, hatte mit dem zu tun, was sie ihre Hexen-Existenz nannte. Im Gegensatz zu Vera nahm ich ihre Gaben ein bisschen ernster und wusste zwischen Klimbim und notwendigen Abläufen zu unterscheiden. Ich wusste es, weil ich in ihrer Gegenwart, wenn sie ihren Kräften freien Lauf ließ, eine Angst spürte, die nicht meine Angst war.
    „ Wenn du dich nicht verweigern kannst, dann gib ihm nach.“
    „ Wie bitte?“
    Ich spürte, wie ich massiv sauer wurde. Und das war meine eigene Wut, die da in mir hoch grollte.
    „ Lass es raus.“ Sie machte eine wegwerfende Geste. „Lass ihn machen. Wie sollst du sonst erfahren, was er überhaupt

Weitere Kostenlose Bücher