Infernal: Thriller (German Edition)
dem kleinen Bach. Ich ging ihr Kleid holen, dann wusch ich sie von Kopf bis Fuß, bis das Blut weg war, und richtete ihre Haare, so gut es ging. So, wie sie es gewollt hätte. Ich wusste, dass mein Vater und meine Brüder jeden Augenblick zurückkommen konnten, doch es war mir egal. Ich hatte etwas erkannt. Ihre Qualen waren endlich vorbei. Ihr ganzes Leben war nur Schmerz gewesen, und jetzt war es vorbei. Sie war besser dran so. Der Tod war eine Erlösung für sie.« Wheaton legt seinen Pinsel nieder und fährt sich mit den Fingern durch das wirre Haar. »Ich war nicht besser dran. Ich konnte mir ein Leben ohne sie überhaupt nicht vorstellen. Aber sie, sie war erlöst. Verstehen Sie?«
Und wie ich verstehe. Ich verstehe, wie ein gequältes Kind die Reise in einen Geisteszustand macht, der es ihm ermöglicht, Frauen zu töten und zu glauben, dass es etwas Gutes damit vollbringt.
»Ich kehrte in den Schuppen zurück und übermalte mein halb fertiges Bild. Dann begann ich, Mutter in ihrem Frieden zu malen, im letzten ersterbenden Licht. Es war das erste Mal, dass ich ihr Gesicht völlig entspannt gesehen habe. Es war wie eine göttliche Offenbarung für mich. Meine Geburt als Künstler. Als ich fertig war, holte ich eine Schaufel und begrub sie neben dem Bachlauf. Ich habe die Stelle nicht markiert. Ich wollte nicht, dass sie wussten, wo sie liegt. Nur ich weiß es.«
»Was geschah, als Sie nach Hause kamen?«
Meine Frage scheint jede Menschlichkeit aus Wheatons Gesicht zu saugen. »Vier Jahre lang lebte ich wie ein Tier. Den wenigen Leuten, die nach meiner Mutter fragten, erzählte Vater, dass sie weggelaufen und nach New York gegangen sei. Dann begann er, in ihrer Vergangenheit herumzustochern. Er gelangte zu der Überzeugung, dass ich ein illegitimes Kind war. Er sprach mit ihrem Arzt und studierte die Unterlagen beim Amt. Er hatte Recht, doch er konnte es nicht beweisen. Er wusste es einfach nur. Er fand nichts von sich in mir wieder – nichts –, und dafür danke ich Gott. Doch danach machten sie Sachen mit Roger, die übersteigen Ihre kühnste Fantasie. Sie ließen ihn hungern. Sie schlugen ihn. Sie ließen ihn arbeiten wie einen Sklaven. Sein Vater gab den älteren Brüdern die Erlaubnis, mit Roger zu machen, was sie wollten. Sie fügten ihm Brandwunden zu. Schnittwunden. Schoben Dinge in ihn hinein. Der Vater missbrauchte ihn sexuell, um ihn zu bestrafen.« Wheaton schüttelt abschätzig den Kopf. »Wäre ich nicht gewesen, Roger hätte niemals überlebt.«
Ausschließlich verursacht durch schlimmen Missbrauch in der Kindheit , hat Dr. Lenz uns gegenüber erläutert. Die Art von radikaler psychischer Spaltung, von der ich spreche ... »Wie haben Sie Roger vor alldem beschützt?«
»Ich habe zugehört. Ich habe beobachtet . Mein Gehör wurde erschreckend scharf. Ich konnte sie atmen hören, wenn sie schliefen. Wenn sich ihr Atem änderte, wusste ich Bescheid. Wenn sie aufstanden, wusste ich, dass Roger in Gefahr war. Ich sagte ihm, wann er sich verstecken und wann er weglaufen musste. Wann er Essen horten musste. Wann er nachgeben und wann er widerstehen musste. Nach einer Weile kam es so weit, dass ich sie denken hören konnte. Ich sah das morbide Verlangen in ihren Köpfen, Bilder, die sich zu Absichten formten, Absichten, die aus ihren Köpfen in ihre trägen Nervenbahnen wanderten und ihre schweren Gliedmaßen in Bewegung setzten. Und deshalb hat Roger überleben können.«
»Haben Sie ihm gesagt, dass er weglaufen und nach New York gehen soll?«
Wheaton malt wieder, und der Pinsel bewegt sich erneut schnell und sicher über die Leinwand. »Ja. Doch die Stadt war anders, als ich geglaubt hatte. Roger versuchte es mit Malen, doch es lief nicht. Die Leute boten ihm Hilfe an, doch sie wollten ihm nicht helfen, sondern sich selbst. Sie gaben ihm zu essen, einen Platz zum Schlafen und einen Raum, in dem er malen konnte. Doch als Gegenleistung wollten sie sein Fleisch. Sie wollten ihn . Und er gab sich her. Was spielte es schon für eine Rolle? Sie waren so viel sanfter als sein Vater und seine Brüder. Vier Jahre lang lebte er bei ihnen, mitten unter weichen, gierigen, grauen alten Männern, und malte Bilder, die andere vor ihm gemalt hatten, während er alles tat, was sie von ihm wollten. Es musste sich etwas ändern.«
Über Wheatons Züge huscht ein fast grausames Lächeln. »Eines Tages, als Roger durch die Straßen wanderte, sah ich meine Chance. Ich rannte in ein Rekrutierungsbüro und trat dem
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