Infernal: Thriller (German Edition)
finden. Doch ich muss mich auch auf die Möglichkeit vorbereiten, dass er mich vielleicht nicht findet. Dass Wheaton seine Arbeit beendet. Immer schön eins nach dem anderen , sagt mein Vater. Bring ihn zum Reden.
Als die Sonne merklich heller in meine Augen scheint, tue ich so, als würde ich langsam zu mir kommen. »Wie sieht es aus?«, frage ich.
»Wie es aussehen soll«, antwortet Wheaton wortkarg. Offensichtlich hat er die Unterhaltung von gestern Abend noch nicht verdaut.
Statt ihn zu bedrängen, liege ich ganz still und versuche, Thalia nicht anzusehen, die noch blasser aussieht als am Tag zuvor.
Nach einer ganzen Weile beginnt Wheaton zu reden. »Ich habe heute Morgen einen Bericht im Fernsehen gesehen. Wenn die Nachrichtensprecher der Lokalsender nicht für das FBI lügen, haben Sie mir gestern die Wahrheit erzählt. Über die Vergewaltigungen.«
Ich schweige.
Ein rascher Blick zu mir, während er weitermalt. »Conrad hat meine Modelle vergewaltigt.«
»Ja.«
»Ich würde alles tun, um das ungeschehen zu machen. Aber das geht natürlich nicht. Ich hätte es wissen müssen, schätze ich. Conrad hatte seine Triebe schon immer schlecht unter Kontrolle. Deswegen wurde er ja auch ins Gefängnis gesteckt. Andererseits ist eine Vergewaltigung auch nur eines der Symptome dessen, worüber wir gestern gesprochen haben. Die Qual. Hätte Conrad es nicht getan, wäre ein anderer gekommen. Vielleicht auf andere Weise. Ihr Ehemann zum Beispiel. Trotzdem. Sie sind jetzt alle viel besser dran als vorher, auch Ihre Schwester.«
Wheaton tritt von der Leinwand zurück und betrachtet sich im Spiegel. »Für Sie mag es schlimm sein, dass Ihre Schwester tot ist, aber für Ihre Schwester gibt es keinen Schmerz mehr. Kein hilfloses Sehnen, keine Abhängigkeit, keine Unterwerfung.«
Wenn ich jetzt über Jane nachdenke, kann ich mich nicht mehr beherrschen. »Ich verstehe. Ich verstehe, was Sie mit Qual meinen, und ich verstehe, warum Sie die ›Schlafenden Frauen‹ erschaffen haben. Aber ich glaube nicht, dass Sie mir alles gesagt haben.«
Seine Augen zucken in meine Richtung, dann ruhen sie wieder auf der Leinwand, und er malt weiter. »Was meinen Sie damit?«
»Ihre Einstellung gegenüber Frauen. Sie kommt nicht einfach so aus der Luft. Sie muss von Frauen beeinflusst sein, die Sie kannten.« Ich muss ganz vorsichtig sein, was ich sage. »Vielleicht von der Frau, die Sie am besten von allen kannten?«
Wheatons Pinsel verharrt sekundenlang in der Luft, dann malt er weiter.
»Ich weiß, dass Ihre Mutter verschwunden ist, als Sie dreizehn oder vierzehn waren.«
Jetzt hört er ganz auf zu malen.
»Ich weiß, wie das ist. Mein Vater verschwand, als ich zwölf war. In Kambodscha. Jeder hat gesagt, er wäre tot, aber ich habe es nie geglaubt.«
Er beobachtet mich. Er weiß, dass ich die Wahrheit sage, und er kann nicht gegen seine Neugier an: Er muss einfach mehr erfahren. »Was glauben Sie denn, was geschehen ist?«
»Zuerst habe ich mir alles Mögliche ausgedacht. Dass er verwundet wurde und an Gedächtnisschwund litt. Dass er verkrüppelt wurde und nicht mehr zu mir zurückkonnte. Dass er von asiatischen Warlords gefangen gehalten wurde. Doch als ich älter wurde, sah ich ein, dass das wahrscheinlich alles nur Hirngespinste waren.«
»Sie haben akzeptiert, dass er tot ist?«
»Nein. Ich glaube inzwischen etwas noch viel Schlimmeres. Dass er nicht zurückgekehrt ist, weil er nicht zurückkehren wollte . Er hat uns verlassen. Vielleicht, um bei einer anderen Frau zu sein. Einer anderen Familie. Einem anderen kleinen Mädchen, das er mehr geliebt hat als mich.«
Wheaton nickt.
»Der Gedanke brachte mich damals fast um. Ich habe mir das Gehirn zermartert mit der Frage, was ich falsch gemacht habe, was ich getan habe, um ihn so wütend zu machen, dass er aufgehört hat, mich zu lieben.«
»Das war nicht Ihre Schuld. Er war ein Mann.«
»Ich weiß. Aber gestern Nacht ... Ich habe über Sie nachgedacht, nein, ich habe von Ihnen geträumt. Und ich sah eine Frau. Ich glaube, es war Ihre Mutter. Sie hielt einen Jungen in den Armen und versuchte ihm zu erklären, warum sie weggehen musste. Ich wollte sie fragen, warum sie Sie verlassen hat ...«
Mit einem Mal sind rote Flecken auf Wheatons Gesicht und Hals, genau so, wie es früher bei meiner Schwester war. Er stößt den Pinsel in meine Richtung, als wäre er ein Messer. »Sie hat mich nicht verlassen! Ich war der Einzige, der sie am Leben gehalten hat!«
»Wie
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