Infernal: Thriller (German Edition)
hatte Roger, nicht ich!« Der Pinsel berührt kurz die Palette, dann huscht er wieder über die Leinwand. »Roger war ja so ein Bourgeois. Als die Sammler meine ›Schlafenden Frauen‹ sahen, erkannten sie eine ganz andere Ebene von Wahrheit.«
»Beispielsweise Marcel de Becque?«
»Er war einer von ihnen.«
»Kannten Sie ihn gut?«
»Ich weiß, dass er meine Arbeiten kauft. Mehr nicht.«
Eigenartigerweise glaube ich Wheaton. Aber wie sind die Verbindungen zwischen de Becque, Wingate und Hoffman sonst zu erklären? Haben vielleicht alle drei diese gequälte Seele und ihre verzerrte Sicht der Dinge nur zu ihrem Vorteil ausgenutzt?
»Was haben Sie jetzt vor?«
»Ich gehe weg. Ich werde als ich selbst leben. Offen. Geld ist kein Problem, und Conrad hat schon vor einiger Zeit neue Identitäten für uns beide beschafft, nur für den Fall.«
»Werden Sie weiter malen?«
»Jetzt spüre ich das Bedürfnis. Nach diesem Bild glaube ich nicht, dass ich es noch spüren werde.«
»Was werden Sie mit mir machen?«
»Ich werde Ihnen geben, was Sie sich am meisten wünschen. Ich werde Sie zu Ihrer Schwester führen.«
Ich schließe die Augen. »Wo ist meine Schwester?«
»Sehr nah.«
»Wie nah? Kann man mit dem Wagen hinfahren? Oder zu Fuß gehen?«
Wheaton schnieft. »Noch näher.«
Johns Stimme ertönt in meinem Kopf, ein Echo von dem Tag, an dem wir uns kennen gelernt haben. Am Lakeshore Drive. Der Wasserspiegel ist in den letzten Jahren beträchtlich gesunken. Er könnte sie unter seinem Haus vergraben, und sie kämen nicht wieder zum Vorschein. Und sie blieben trocken. Ein wenig Kalk dazu, und sie fangen nicht einmal an zu stinken.
»Ist sie hier begraben? Unter diesem Haus?«
Er zuckt nicht einmal, während er nickt und ungerührt weitermalt. Es raubt mir fast den Verstand.
»Die anderen Frauen auch?«
»Ja. Ihre Schwester war ein wenig anders als die anderen. Sie hat versucht zu fliehen. Ich bin nicht sicher, wie sie es gemacht hat, aber sie kam bis nach draußen in den Garten. Conrad hat sie wieder eingefangen. Sie hat sich gewehrt, und er musste es dort draußen zu Ende bringen. Er hat sie an Ort und Stelle begraben. Ich habe ihr Bild mit einer Fotografie als Vorlage beendet.«
Zum ersten Mal seit vielen Stunden steigt Wut in mir auf. Ich greife nach dem Wasserhahn und drehe ihn auf, wie ich es schon zweimal zuvor getan habe – nur öffne ich dieses Mal den blauen Hahn. Wheaton scheint es nicht zu bemerken.
Während ich gegen die quälenden Bilder ankämpfe, die seine Worte in mir an die Oberfläche gerufen haben, legt er den Pinsel ab, massiert sich erneut die Hände, nimmt eine Uhr vom Tisch hinter sich und blickt darauf. Mit einem leichten Grunzen wendet er sich um und geht ins Haus. Ich höre ein leises Klappern, gefolgt vom Murmeln einer Stimme. Offensichtlich ruft er irgendjemanden an.
Ich rolle mich herum, setze mich auf die Knie, lehne mich aus der Wanne und ziehe die Kühlbox zu mir heran. Ich bete, dass das Geräusch des fließenden Wassers meinen Lärm übertönt, während ich mehrmals tief durchatme. Dann hebe ich die Box an den Wannenrand und schütte den Inhalt zu mir ins Wasser.
Der eisige Schock treibt mir die Luft aus den Lungen. Selbst meine Gedanken scheinen zu erstarren, so kalt ist das Wasser, doch ich habe keine Zeit zu verschwenden. Drei Flaschen Michelob sind in die Wanne gefallen. Ich stelle sie in die leere Box zurück, setze den Deckel auf und schiebe sie wieder an ihren Platz. Durch die Tür zu meiner Linken höre ich Wheatons monotone Stimme. Ich glaube, mehrfach die Worte »Ticket« und »Abflug« zu verstehen.
Mein Gott, ist das kalt! Lange ertrage ich das nicht. Mein träges Gehirn hat bereits etwas ganz Wichtiges vergessen, doch jetzt fällt es mir wieder ein. Meine Insulin-Verteidigung. Ich greife hinunter zwischen Wanne und Spiegel, nehme einen Schokoriegel und reiße die Verpackung mit steifen Fingern auseinander. Ich breche den Riegel in Stücke und schiebe sie mir in den Mund, dann kaue ich gerade lange genug darauf herum, bis ich das Zeug herunterschlucken kann.
Wheaton telefoniert noch immer. Ich reiße eine zweite Packung auf und verschlinge den Inhalt.
Schritte.
»Komm zu mir« , sage ich leise und bemühe mich verzweifelt, meine Zähne am Klappern zu hindern. »Sagte die Spinne zur Fliege.«
Als Wheaton wieder auftaucht, wird mir plötzlich bewusst, wie eigenartig er in seinem weißen Leinentuch aussieht. Nach zwei Tagen des Malens habe ich mich an
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