Infernal: Thriller (German Edition)
fotografiert habe. Es kam mir vor wie zwanzig Meter, obwohl es in Wirklichkeit nicht mehr als fünf waren.
Was soll’s, zur Hölle. Ein gebrochener Knöchel ist nichts im Vergleich zu Wingates Schicksal. Ich löse meinen Griff und falle durch die Dunkelheit. Meine Absätze prallen hart auf dem Pflaster auf und rutschen nach vorne weg, und meine rechte Hinterbacke und Hand fangen den größten Teil des Sturzes auf. Ich schreie vor Schmerz, doch das berauschende Gefühl, entkommen zu sein, ist ein sehr starkes Betäubungsmittel. Ich rolle mich nach links ab, stehe auf und starre hinauf zur Plattform. Aus dem Fenster, durch das ich Augenblicke zuvor nach draußen geklettert bin, schießen lodernde Flammen.
Jesses.
Mein nächster Impuls lässt mich den Kopf wenden und zum Ende der Gasse sehen, und was ich dort erblicke, jagt mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Ein Mann steht da und beobachtet mich. Ich erkenne nur seine Silhouette, da die Lichtquelle hinter ihm liegt. Er sieht groß und kräftig aus. Groß genug, um kurzen Prozess mit mir zu machen. Während ich ihn anstarre, setzt er sich in Bewegung. Zuerst zögernd, dann mit entschlossenen Schritten kommt er auf mich zu. Er sieht nicht aus wie ein Feuerwehrmann. Meine Hand fährt in die Tasche, doch die chemische Keule ist nicht mehr da. Ich muss sie oben verloren haben. Ich besitze nichts außer meiner Kamera, die in dieser Situation mehr als nutzlos ist. Ich wirbele herum und renne in die entgegengesetzte Richtung davon, dem geisterhaften Heulen der sich nähernden Sirenen entgegen.
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A ls ich aus der Einmündung der Gasse spurte, finde ich mich unversehens vor einem Spektakel wieder, über das ich zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn Dutzende Male selbst berichtet habe. Das klassische Feuer-Szenario: Löschfahrzeuge mit rot blitzenden Lichtern, Wasser speiende Schläuche, eintreffende Einsatzfahrzeuge und Notarztwagen, brüllende Cops, eine neugierige Menschenmenge – die stets gleiche Menge, die auch hier aus der Bar und der Videothek nebenan strömt, gafft, trinkt und in Handys brüllt. Die meisten von ihnen sind aus der Bar gekommen, nachdem sie »eine Explosion« gehört haben, und der Geruch von Alkohol liegt in der Luft. Die Polizei gibt sich alle Mühe, die Menge hinter einer Bandabsperrung zu halten, um sie vor herabfallenden Ziegeln und Glassplittern zu schützen, doch die Menschen bewegen sich nur widerwillig. Ich gehe direkt an dem größten Cop vorbei und richte meine Kamera auf das Feuer.
»Hey!«, ruft er. »Gehen Sie augenblicklich hinter die Absperrung zurück!«
»Ich bin von der ›Post‹«, sage ich zu ihm und halte meine Kamera hoch.
»Zeigen Sie mir Ihren Ausweis.«
»Ich hab ihn nicht mit. Ich war mit ein paar Freunden in der Bar. Deswegen habe ich auch nur dieses dumme kleine Ding dabei. Hören Sie, Mann, ich bin die Erste hier. Ich kann über den gesamten Einsatz berichten und Bilder von der Menge machen.«
Während der Cop noch überlegt, wende ich mich dem Eingang der Seitengasse zu, vierzig Meter entfernt, doch niemand kommt daraus hervor. Die Seitenmauer scheint für einen Augenblick zu verschwimmen, und die senkrechte Linie aus Ziegeln bewegt sich. Ist er das? Sucht er nach einem Weg, um mich selbst jetzt noch zu erwischen? Rumpelnd bildet sich ein tiefer Riss im Mauerwerk des Wingate-Hauses, und Steine stürzen krachend in die Tiefe. Die Menge stößt ihr obligatorisches Stöhnen aus.
»Kommen Sie, Mann! Ich verpasse die ganze Show!«
Der Cop winkt mit dem Kopf in Richtung des Gebäudes, und ich bin wie der Blitz an ihm vorbei und bewege mich fotografierend am Rand der Menge entlang. Niemand scheint zu bemerken, dass ich die Menge fotografiere und nicht das Feuer. Alle paar Sekunden richte ich die Kamera auf das Gebäude, doch ich verschwende kein Filmmaterial auf das Feuer.
Die Gesichter strahlen alle das Gleiche aus: primitive Faszination an der Grenze zu Schadenfreude. Ein paar weibliche Gesichter zeigen Mitgefühl und ein Gespür dafür, dass der Brand eine Tragödie ist, doch ohne kreischende Mütter, die mit ihren Säuglingen aus den Fenstern springen, und ohne Teenager, die an brennenden Bettlaken aus den Fenstern zu klettern versuchen, gleicht das Ganze eher einer Party.
Wenn der Typ aus der Seitengasse nicht der Brandstifter ist, dann verbirgt sich die verantwortliche Person aller Wahrscheinlichkeit nach in der gaffenden Menge. Brandstifter lieben es, ihre Feuer beim Brennen zu beobachten – es
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