Inferno
Dantes Komödie so gut gekannt, dass er aus dem Kopf auf einen speziellen Canto verweisen konnte. Irgendetwas aus diesem Canto war ihm anscheinend bemerkenswert erschienen. Was immer es war, Langdon würde es bald herausfinden. Er musste nur eine Ausgabe von Dantes Dichtung in die Finger bekommen, was in Florenz mehr oder weniger in jedem Geschäft möglich war.
Die Perücke fing an zu jucken. Obwohl er sich in seiner Verkleidung ein wenig lächerlich vorkam, musste er einräumen, dass Siennas improvisierte Maskerade sich als äußerst effektiv erwiesen hatte. Niemand hatte die beiden eines zweiten Blickes gewürdigt, nicht einmal die eingetroffene Verstärkung der Polizei, die wenige Sekunden zuvor auf dem Weg zum Palazzo Vecchio an ihnen vorbeigestürmt war.
Sienna lief minutenlang schweigend neben ihm her. Langdon musterte sie immer wieder verstohlen, um zu ergründen, ob mit ihr alles in Ordnung war.
Sie schien in Gedanken kilometerweit entfernt. Wahrscheinlich versuchte sie sich damit abzufinden, dass sie eben einen Menschen getötet hatte – auch wenn es eine Mörderin gewesen war, die sie gejagt hatte.
»Einen Penny für Ihre Gedanken«, sagte Langdon schließlich in der Hoffnung, Sienna abzulenken. Nur zu gern wollte er das Bild der toten Frau in der großen Blutlache aus ihrem Kopf vertreiben.
Langsam kehrte Sienna aus ihrer Versunkenheit zurück. »Ich habe über Zobrist nachgedacht«, sagte sie zögernd. »Ich habe versucht, mir alles ins Gedächtnis zu rufen, was ich über ihn weiß.«
»Und?«
Sie zuckte die Schultern. »Das meiste stammt aus einem kontroversen Essay, das er vor einigen Jahren geschrieben hat. Es ist mir in Erinnerung geblieben, weil es in der medizinischen Community sofort viral wurde.« Sie verzog das Gesicht. »Sorry. Schlechte Wortwahl, schätze ich.«
Langdon kicherte grimmig. »Erzählen Sie weiter.«
»Zobrist behauptet in diesem Essay, dass die Menschheit am Rand des Aussterbens steht und dass unsere Spezies keine hundert Jahre mehr überleben wird – es sei denn, ein katastrophales Ereignis dämmt das Bevölkerungswachstum jäh ein.«
Langdon drehte sich um und starrte sie an. »Keine hundert Jahre mehr?«
»Eine ziemlich krasse These. Der vorhergesagte zeitliche Rahmen ist substanziell kürzer als viele vorhergehende Schätzungen, aber Zobrist hat ihn durch stichhaltige wissenschaftliche Daten gestützt. Er hat sich eine Menge Feinde gemacht, indem er beispielsweise forderte, sämtliche Ärzte sollten aufhören zu praktizieren, weil das Bevölkerungsproblem durch die Verlängerung der menschlichen Lebensspanne nur noch verschlimmert würde.«
Langdon ahnte, warum sich das Essay mit derartiger Geschwindigkeit in der medizinischen Community verbreitet hatte.
»Wie nicht anders zu erwarten, wurde Zobrist sofort von allen Seiten unter Beschuss genommen«, fuhr Sienna fort. »Politiker, Geistliche, die World Health Organization, alle verhöhnten ihn als einen armen Irren, der nichts weiter im Sinn habe, als Panik zu schüren. Ganz besonders übel nahmen sie ihm die Feststellung, dass die heutige Jugend – falls sie sich dazu entscheidet, Kinder zu bekommen – Nachkommen in die Welt setzt, die das Ende der menschlichen Rasse am eigenen Leib erfahren werden. Zobrist hat sein Szenario mit einer ›Weltuntergangsuhr‹ veranschaulicht. Wenn die gesamte Zeitspanne menschlichen Lebens auf der Erde auf eine Stunde komprimiert würde, sagte er, dann wären wir in den letzten Sekunden angekommen.«
»Ich habe diese Uhr im Internet gesehen«, räumte Langdon ein.
»Ja. Er hat sie erschaffen, und sie verursachte einen Aufschrei. Den größten Gegenwind jedoch fing er sich mit einer besonders provokativen Bemerkung ein: Seine Entdeckungen auf dem Gebiet der Gentechnik und Genmanipulation wären der Menschheit viel dienlicher, wenn man sie nicht zur Heilung von Krankheiten nutzen würde, sondern dazu, neue zu erschaffen .«
»Was?«
»Genau. Er argumentierte, seine Technologie sollte dazu eingesetzt werden, hybride Stränge von Krankheiten zu erschaffen, gegen die unsere moderne Medizin machtlos ist.«
Angst keimte in Langdon auf, als er sich die Folgen neuartiger Designer-Viren vorstellte, die nach ihrer Freisetzung nicht mehr aufzuhalten waren.
»Im Verlauf weniger Jahre wurde aus dem einst gefeierten Star der medizinischen Welt ein verhasster Aussätziger. Ein Verfluchter«, fuhr Sienna fort. Sie zögerte, und in ihrer Miene spiegelte sich Mitgefühl. »Kein Wunder,
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