Inferno
Ihnen offen, aber Sie müssen sich beeilen .
Langdon betrachtete die Paradiespforten. Wenn Ignazio auch die gewaltigen Türen des Baptisteriums unversperrt gelassen hatte, könnte man sie einfach aufdrücken. Doch wie sollten sie hineinkommen, ohne die Aufmerksamkeit der übrigen Touristen zu erregen … oder die der Polizei und der Domwachen?
»Da!«, rief plötzlich eine Frauenstimme. »Er springt gleich!« Die Stimme zitterte vor Schreck. »Da oben auf dem Glockenturm!«
Langdon fuhr herum und sah, dass die rufende Frau niemand anderes als Sienna war. Sie stand fünf Meter von ihm entfernt, zeigte aufgeregt zum Glockenturm hinauf und rief immer wieder: »Da oben! Er springt!«
Alle Blicke richteten sich suchend auf die Fassade des Campanile. Dann zeigten auch andere nach oben, kniffen die Augen zusammen und riefen durcheinander.
»Da will jemand springen?«
»Wo?«
»Ich sehe nichts!«
»Da drüben! Links!«
Es dauerte nur Sekunden, bis die Aufregung die restliche Menschenmenge auf dem Platz erfasst hatte. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und kurz darauf gab es niemanden mehr, der nicht den Kopf in den Nacken gelegt hatte, nach oben zeigte und zum Glockenturm starrte.
Perfektes virales Marketing , dachte Langdon. Er wusste, dass ihm nur Sekunden zum Handeln blieben. Er zog das Gitter einen Spalt weit auf und schlüpfte zusammen mit Sienna hindurch, die in der Zwischenzeit wieder an seiner Seite aufgetaucht war. Dann schloss er das Gitter und drehte sich zu der fünf Meter hohen Bronzetür um. In der inbrünstigen Hoffnung, Ignazio richtig verstanden zu haben, stemmte er sich mit der Schulter gegen einen der Türflügel und drückte mit aller Kraft.
Im ersten Moment geschah nichts … doch dann bewegte sich das massive Tor langsam.
Die Pforten stehen Ihnen offen.
Die Türflügel schwangen einen guten halben Meter weit nach innen. Sienna verschwendete keine Zeit und schlüpfte hindurch. Langdon schob sich seitlich durch den Spalt und folgte ihr in die relative Dunkelheit des Innenraums.
Sie drehten sich um und drückten die schweren Pforten gemeinsam wieder zu. Der Lärm von draußen verstummte, und Stille kehrte ein.
Sienna deutete auf einen langen Balken am Boden, der offensichtlich als Riegel für die Bronzetüren gedacht war. »Ignazio muss ihn heruntergenommen haben«, sagte sie.
Langdon hob den Balken hoch und legte ihn zusammen mit Sienna in die dafür vorgesehenen Halterungen. Die Paradiespforten waren verschlossen … und sie waren sicher im Baptisterium angelangt.
Für einen Moment standen Langdon und Sienna schweigend da und warteten darauf, dass sich ihre klopfenden Herzen beruhigten. Verglichen mit dem Lärm auf der Piazza, war es in der berühmten Taufkapelle so still und friedlich wie im Himmel.
Draußen vor dem Battistero di San Giovanni wand sich der Mann mit der Brille von Plume Paris und der Paisley-Krawatte durch die Menge, ohne sich um die beunruhigten Blicke jener zu scheren, die seinen blutigen Ausschlag bemerkten.
Er erreichte den Gitterzaun vor den Bronzetüren, durch die Langdon und seine blonde Begleiterin verschwunden waren – selbst über den Lärm der Touristen hinweg hatte er den dumpfen Schlag gehört, als sie die Türen von innen verbarrikadiert hatten.
Hier geht es nicht mehr rein .
Allmählich legte sich die Aufregung auf dem Platz. Die Touristen, die eben noch erwartungsvoll zum Campanile hinaufgestarrt hatten, verloren das Interesse. Kein Selbstmörder . Alle machten weiter, als wäre nichts gewesen.
Das Jucken wurde immer unerträglicher, der Ausschlag schlimmer. Inzwischen waren auch seine Fingerspitzen angeschwollen und die Haut gerissen. Der Mann schob die Hände in die Taschen, um sich am Kratzen zu hindern. Seine Brust schmerzte pochend, während er sich anschickte, das achteckige Bauwerk zu umrunden und einen anderen Eingang zu suchen.
Er war kaum um die erste Ecke gebogen, als er einen sengenden Schmerz am Hals spürte und feststellte, dass er sich schon wieder gekratzt hatte.
KAPITEL 55
Der Legende nach ist es unmöglich, beim Betreten des Battistero di San Giovanni nicht nach oben zu sehen. Und obwohl Langdon schon viele Male hier gewesen war, wanderte sein Blick auch diesmal wieder unwillkürlich zur Decke.
Die hohe Gewölbedecke überspannte einen oktogonalen Raum von sechsundzwanzig Metern Durchmesser. Die polierte goldgelbe Oberfläche bestand aus mehr als einer Million kleiner Smalti : winzigen Mosaiksteinchen, die
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