Inferno
lebhaftes, beinahe verspieltes Aussehen verliehen; deshalb verglichen eine ganze Reihe von Reiseführern den Markusdom auch mit einer Hochzeitstorte, die mit Baiser verziert war.
Hoch oben auf der Zentralkuppel des Domes blickte die schlanke Statue des heiligen Markus auf den nach ihm benannten Platz hinab. Er stand auf einem Bogen, der mitternachtsblau bemalt und mit goldenen Sternen verziert war und in dessen Mitte das Maskottchen der Stadt prangte, der goldene, geflügelte Löwe von Venedig.
Genau unter dem goldenen Löwen präsentierte der Markusdom einen seiner berühmtesten Schätze: vier gewaltige Kupferhengste, die im Licht der Nachmittagssonne schimmerten.
Die Rosse von San Marco .
Die Hengste sahen aus, als würden sie jeden Augenblick auf den Platz springen. Es war faszinierend anzusehen, wie es dem Künstler gelungen war, diese Dynamik in Kupfer zu bannen.
Diese vier kostbaren Hengste waren – wie viele andere Schätze in Venedig – während des 4. Kreuzzugs aus Konstantinopel geraubt worden. Unter den Hengsten befand sich ein weiteres gestohlenes Kunstwerk, eine purpurne Skulptur aus Porphyr: vier römische Herrscher, die als Tetrarchen bekannt waren. Die Skulptur war wegen eines besonderen Merkmals berühmt: Einem der Herrscher fehlte ein Fuß, der bei der Plünderung Konstantinopels im dreizehnten Jahrhundert abgebrochen war. In den 1960er Jahren hatte man den Fuß dann wie durch ein Wunder bei einer Ausgrabung in Istanbul entdeckt. Die Stadtregierung Venedigs hatte daraufhin gebeten, ihr den fehlenden Fuß zu übereignen, doch die türkischen Behörden hatten schlicht darauf geantwortet: Ihr habt die Skulptur gestohlen. Wir behalten unseren Fuß .
»Mister, Sie kaufen?«, fragte eine Frau, und Langdon blickte sie an. Eine stämmige Zigeunerin streckte ihm einen langen Stab entgegen, an dem eine Kollektion venezianischer Masken hing. Die meisten waren im beliebten Volto -Stil gehalten, dem stilisierten weißen Gesicht, das vor allem Frauen gerne im Karneval trugen. Aber die Sammlung enthielt auch einige verspielte Colombina -Masken, die nur das halbe Gesicht bedecken, ein paar dreieckige Bautas und eine Moretta . Dieses bunte Angebot erregte Langdons Aufmerksamkeit jedoch nicht so sehr wie die schwarzgraue Maske ganz oben am Stab. Die Form der ausgesparten Augen wirkte ebenso bedrohlich wie die lange Hakennase.
Der Pestdoktor . Langdon wandte den Blick ab. Er durfte nicht vergessen, weshalb er hier war.
»Sie kaufen?«, wiederholte die Zigeunerin.
Langdon lächelte matt und schüttelte den Kopf. »Sono molto belle, ma no, grazie.«
Als die Frau ging, sah Langdon der ominösen Pestmaske hinterher, die auf dem langen Stab noch lange über den Köpfen der Touristen zu sehen war. Dann seufzte er und blickte wieder zu den vier Kupferhengsten auf ihrem Balkon hinauf.
Plötzlich hatte er einen Geistesblitz.
Ihm war, als würden alle Puzzleteile zugleich auf ihn einprasseln. Die Rosse von San Marco , venezianische Masken und geplünderte Schätze aus Konstantinopel.
»Mein Gott«, flüsterte er. »Das ist es!«
KAPITEL 72
Robert Langdon war wie versteinert.
Die Rosse von San Marco!
Diese vier prachtvollen Pferde mit ihren königlichen Hälsen und den kühnen Brustriemen hatten wie aus heiterem Himmel eine Erinnerung in Langdon geweckt, die ein wichtiges Element des Gedichts auf Dantes Totenmaske erklärte.
Langdon war einmal als Gast auf einer Prominentenhochzeit in New Hampshire gewesen, auf der historischen Runnymede Farm , dem Heim des Kentucky-Derby-Gewinners Dancer’s Image . Im Rahmen des verschwenderischen Unterhaltungsprogramms hatte es auch eine Vorführung der Pferdeshowtruppe Behind the Mask gegeben, ein fantastisches Spektakel, bei dem die Reiter venezianische Volto-Masken getragen hatten. Die pechschwarzen Friesenpferde der Truppe waren die größten Pferde, die Langdon je gesehen hatte. Die kolossalen Tiere waren mit wehenden Mähnen und flatterndem Hufbehang über das Feld gedonnert.
Die Schönheit dieser Kreaturen hatte ihn so sehr beeindruckt, dass er nach seiner Rückkehr im Internet recherchiert hatte. Mit interessantem Ergebnis: Die Rasse war einst der Favorit mittelalterlicher Könige gewesen, die die Tiere bevorzugt als Schlachtrösser eingesetzt hatten. Erst vor wenigen Jahren hatte man sie vor dem Aussterben bewahrt. Ursprünglich Equus robustus genannt, war der moderne Name der Tiere »Friese«, ein Tribut an ihre Heimat, die niederländische Provinz Friesland,
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