Inferno
Professor.«
Langdons Nicken kam von Herzen. Er wusste, dass alle christlichen Bilder und Symbole hier weiß übertüncht gewesen waren, als die Hagia Sophia noch als Moschee gedient hatte. Die restaurierten christlichen Symbole neben den muslimischen zu sehen hatte eine faszinierende Wirkung, besonders da sie sich im Stil dramatisch voneinander unterschieden.
Während man in der christlichen Tradition bildliche Darstellungen von Gott und den Heiligen bevorzugte, konzentrierte sich der Islam ganz auf Kalligrafie und geometrische Muster, um die Schönheit von Gottes Universum wiederzugeben. In der islamischen Tradition hieß es, nur Gott könne Leben erschaffen, und daher dürfe sich der Mensch auch kein Bild des Lebens machen, egal ob von Gott, den Menschen oder von den Tieren.
Langdon erinnerte sich, wie er einmal versucht hatte, seinen Studenten dieses Konzept zu erklären. »Ein muslimischer Michelangelo hätte zum Beispiel niemals das Angesicht Gottes auf die Decke der Sixtinischen Kapelle gemalt. Stattdessen hätte er den Namen Gottes geschrieben. Gottes Gesicht darzustellen, wäre Blasphemie gewesen.«
Dann hatte Langdon seinen Studenten den Grund dafür erklärt. »Sowohl das Christentum als auch der Islam sind logozentrische Religionen. Das heißt, sie sind auf das Wort fokussiert. Für die christliche Tradition gilt, was im Evangelium des Johannes geschrieben steht: Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns . Deshalb gilt es auch als akzeptabel, das Wort in menschlicher Form darzustellen. In der islamischen Tradition ist das Wort jedoch nicht Fleisch geworden, und deshalb muss das Wort dort auch Wort bleiben. Kalligrafisch dargestellte Namen sind daher im Islam so etwas wie unsere Heiligenfiguren.«
Einer von Langdons Studenten hatte das Ganze recht amüsant zusammengefasst: »Christen mögen Gesichter, Muslime Worte.«
Mirsat riss Langdon aus seinen Gedanken, als er durch den spektakulären Raum deutete. »Hier vor uns sehen Sie eine einmalige Mischung von Christentum und Islam.«
Er lenkte die Aufmerksamkeit der Besucher auf einige Symbole in der massiven Apsis, die aus beiden Religionen stammten. Eine Jungfrau mit Kind blickte auf eine mirhab hinab, eine muslimische Gebetsnische, die in Richtung Mekka ausgerichtet war. Nicht weit davon entfernt führte eine Treppe zu einer Kanzel hinauf, die genauso aussah wie die Kanzeln in christlichen Kirchen. Dabei handelte es sich in Wahrheit jedoch um eine minbar , die heilige Plattform, von der aus der Imam das Freitagsgebet leitete. Ähnlich verhielt es sich mit dem Gebilde daneben, das zwar einem christlichen Chorgestühl ähnelte, aber ein muezzin mahfili war, wo der Muezzin als Antwort auf die Gebete des Imam niederkniete und sang.
»Moscheen und Kathedralen gleichen sich auf erstaunliche Weise«, erklärte Mirsat. »Die Traditionen von Ost und West sind nicht so unterschiedlich, wie Sie vielleicht glauben.«
»Mirsat«, drängte Brüder ungeduldig. »Wir würden jetzt wirklich gerne Dandolos Grab sehen.«
Mirsat wirkte leicht verärgert, als habe Brüder das Gebäude mit seiner Ungeduld entweiht.
»Er hat Recht, Mirsat«, sagte Langdon. »Verzeihen Sie bitte, dass wir so drängen, aber unser Zeitplan ist eng.«
»Wie Sie meinen«, seufzte Mirsat und deutete auf eine Empore zu ihrer Rechten. »Dann lassen Sie uns nach oben gehen und das Grab besichtigen.«
Langdon war verblüfft. »Nach oben? Wurde Enrico Dandolo nicht unten in der Krypta beigesetzt?« Langdon erinnerte sich zwar dunkel an das Grab, aber nicht an die genaue Lage im Gebäude. Er hatte ständig unterirdische Kammern vor Augen gehabt.
Mirsat schien die Bemerkung zu verwirren. »Nein, Professor, das Grab von Enrico Dandolo liegt definitiv dort oben.«
Was zum Teufel ist hier los? , fragte sich Mirsat.
Als der Professor darum gebeten hatte, Dandolos Grab sehen zu dürfen, war Mirsat gleich der Verdacht gekommen, dass die Bitte nur ein Vorwand war. Niemand will Dandolos Grab sehen . Mirsat hatte angenommen, dass der Professor in Wahrheit den rätselhaften Schatz direkt neben dem Grab sehen wollte: das Deesis-Mosaik , einen antiken Christus Pantokrator , der ohne Zweifel zu den geheimnisvollsten Kunstwerken im Gebäude gehörte.
Langdon will das Mosaik erforschen, aber diskret , hatte Mirsat vermutet. Der Professor arbeitet womöglich an einem Buch darüber .
Nun jedoch war Mirsat verwirrt. Langdon wusste mit Sicherheit, dass sich das Deesis-Mosaik auf der Empore befand. Also
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