Inferno
furchteinflößend.«
Er ging auf und ab. »Überlegen Sie. Die Bevölkerung brauchte viele Jahrtausende – vom Anbeginn des Menschen bis in das frühe neunzehnte Jahrhundert –, um auf eine Milliarde anzuwachsen. Erstaunlicherweise dauerte es nur noch einhundert Jahre, um die Bevölkerung bis etwa 1920 auf zwei Milliarden zu verdoppeln. Danach brauchte die Menschheit nur noch fünfzig kurze Jahre bis in die 1970er, um ihre Zahl auf vier Milliarden zu erhöhen. Wie Sie wissen, sind wir auf dem besten Weg, die acht Milliarden zu erreichen. Allein am heutigen Tag wurde eine Viertel Million Menschen geboren. Eine Viertel Million! Und das passiert jeden Tag, ob es regnet oder die Sonne scheint. Gegenwärtig steigt die Weltbevölkerung jährlich um die Einwohnerzahl eines Landes wie Deutschland.«
Der Mann blieb stehen und sah Elizabeth an. »Wie alt sind Sie?«
Noch so eine unverschämte Frage. Doch Elizabeth war als Direktorin der WHO daran gewöhnt, Feindseligkeit mit Diplomatie zu begegnen. »Einundsechzig.«
»Ist Ihnen klar, dass Sie, falls Sie achtzig Jahre alt werden, eine Verdreifachung der Weltbevölkerung erlebt haben werden? Ein Lebensalter – die Verdreifachung der Population. Überlegen Sie, welche Folgen sich ergeben. Ihre World Health Organization hat, wie Sie zweifellos wissen, erneut ihre Vorhersagen nach oben korrigiert. Nach jüngsten Schätzungen gibt es noch vor der Mitte dieses Jahrhunderts neun Milliarden Menschen auf der Welt. Andere Spezies sterben in nie gekannter Geschwindigkeit aus. Die Nachfrage nach den schwindenden natürlichen Ressourcen durchbricht alle Rekorde. Sauberes Wasser ist schwerer und schwerer zu finden. Ganz gleich, welchen biologischen Maßstab man anlegt – unsere Spezies hat die maximal vertretbare Zahl an Individuen längst bei weitem überschritten . Und die WHO , Gesundheitswächter des Planeten, hat angesichts dieses drohenden Desasters nichts anderes zu tun, als Dinge wie die Heilung von Diabetes oder den Kampf gegen Krebs zu erforschen.« Er verstummte und sah ihr direkt in die Augen. »Ich habe Sie herbringen lassen, weil ich Sie fragen will, warum zum Teufel die WHO nicht den Mut aufbringt, sich mit diesem Problem zu befassen?«
Elizabeth schäumte innerlich. »Wer auch immer Sie sind, Sie wissen verdammt genau, dass die WHO das Problem der Überbevölkerung sehr ernst nimmt. Erst vor Kurzem haben wir Millionen Dollar ausgegeben und Ärzte nach Afrika entsandt, die den Menschen kostenlose Kondome geben und sie über Geburtenkontrolle aufklären sollen.«
»Ah, richtig!«, pflichtete der große Mann ihr sarkastisch bei. »Und eine noch viel größere Armee katholischer Missionare folgt Ihren Ärzten auf dem Fuß und erzählt den Afrikanern, dass sie alle in die Hölle kommen, wenn sie diese Kondome benutzen. Afrika hat ein neues Umweltproblem – ganze Mülldeponien voll mit unbenutzten Kondomen.«
Elizabeth musste an sich halten, um nicht zu schreien. Er hatte in diesem Punkt Recht, doch die modernen Katholiken hatten längst angefangen, sich gegen die Einmischung des Vatikans in derartige Fragen zu wehren. Melinda Gates, eine bekennende Katholikin, hatte 560 Millionen Dollar gespendet und mutig den Zorn ihrer Kirche riskiert, um die Geburtenkontrolle weltweit zu erleichtern. Elizabeth Sinskey hatte viele Male in den Medien verkündet, dass Bill und Melinda Gates heilig gesprochen werden sollten für die Dienste, die sie und ihre Stiftung der Weltgesundheit geleistet hatten. Traurigerweise war die einzige Organisation, die eine Heiligsprechung vornehmen konnte, derart mit Blindheit geschlagen, dass sie das Christliche an den Bemühungen des Ehepaares Gates nicht sah.
»Dr. Sinskey«, fuhr der Schatten fort. »Was die World Health Organization nicht zur Kenntnis nehmen will, ist die Tatsache, dass es lediglich ein globales Gesundheitsproblem gibt.« Er deutete auf das grimmige Bild von Gustave Doré, das Meer ineinander verschlungener, übereinander kletternder Leiber. »Nämlich dieses.« Er verstummte. »Mir ist bewusst, dass Sie Wissenschaftlerin sind und deswegen vielleicht nicht so bewandert in der klassischen Kunst. Deswegen lassen Sie mich Ihnen ein anderes Bild zeigen, ein Bild in einer Sprache, die Sie besser verstehen.«
Es wurde für eine Sekunde dunkel, dann erschien ein neues Bild auf dem Schirm.
Ein Bild, das Elizabeth viele Male gesehen hatte … und jedes Mal hatte es ein Gefühl von furchterregender Unabwendbarkeit in ihr
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