Inferno
geweckt.
Lastende Stille senkte sich über den kleinen Raum.
»Ja«, sagte der schlanke Mann schließlich. »Stummes Entsetzen ist die einzige Antwort auf dieses Diagramm. Es anzusehen ist ein wenig so, als würde man in die Scheinwerfer eines heranbrausenden Zuges starren.« Langsam drehte sich der Mann zu Elizabeth um und nickte herablassend. »Fragen, Dr. Sinskey?«
»Nur eine«, giftete sie. »Haben Sie mich herbringen lassen, um mir einen Vortrag zu halten oder um mich zu beleidigen?«
»Weder noch.« Seine Stimme klang plötzlich merkwürdig freundlich. »Ich habe Sie herbringen lassen, um mit Ihnen zu arbeiten. Sie verstehen zweifellos, dass Überbevölkerung ein Gesundheitsproblem darstellt. Ich fürchte jedoch, Sie verstehen nicht, dass dieses Problem die Seele der Menschheit angreifen wird. Unter dem Druck der Überbevölkerung werden selbst die zu Dieben, die niemals daran gedacht haben zu stehlen. Und stehlen werden sie schon deshalb, um ihre Familien zu ernähren. Und die, die nie daran gedacht haben zu töten, werden es tun, um ihre Jungen zu versorgen. Alle Sünden Dantes – Habgier, Wollust, Neid, Zorn, Verrat, Mord und der ganze Rest – all das wird mehr und mehr zunehmen, an die Oberfläche steigen, beflügelt durch das Schwinden jeglicher Sicherheit. Wir stehen vor einem Kampf um die Seele der Menschheit.«
»Ich bin Biologin. Ich rette Leben … keine Seelen.«
»Ich kann Ihnen versichern, Dr. Sinskey, Leben zu retten wird in den kommenden Jahren immer schwerer werden. Überbevölkerung bringt weit mehr zum Vorschein als spirituelle Unzufriedenheit. Bei Machiavelli findet sich eine Passage …«
»Ja, ich weiß!«, unterbrach sie ihn. Sie kannte das berühmte Zitat selbst. »›Wenn erst alle Länder derart überbevölkert sind, dass sie sich nicht mehr ernähren noch durch Auswanderung zu helfen vermögen … dann wird die Welt sich selbst reinigen.‹« Sie starrte den Fremden an. »Jeder Mitarbeiter der World Health Organization kennt dieses Zitat in- und auswendig.«
»Gut. Dann wissen Sie auch, dass nach Machiavelli Seuchen die natürliche Methode der Welt zur Selbstreinigung sind.«
»Ja, und wie ich in meinem Vortrag erwähnt habe, sind wir uns durchaus der direkten Korrelation zwischen Bevölkerungsdichte und der Wahrscheinlichkeit großräumiger Epidemien bewusst. Wir entwickeln ununterbrochen neue Methoden zum Nachweis und zur Behandlung derartiger Epidemien. Die WHO ist zuversichtlich, dass wir zukünftige Pandemien verhindern können.«
»Das ist sehr schade.«
Elizabeth starrte den Mann an, als hätte er den Verstand verloren. »Wie bitte?«
»Dr. Sinskey«, sagte der Fremde mit einem eigenartigen Lachen. »Sie reden davon, Epidemien zu kontrollieren, als wäre das etwas Gutes.«
Es verschlug ihr die Sprache, und sie sah ihn nur in stummem Unglauben an.
Der Fremde fuhr im Tonfall eines Anwalts fort, der sein Plädoyer zum Abschluss bringt. »Sehen Sie nur. Hier stehe ich mit der Direktorin der WHO – dem besten, was die WHO zu bieten hat. Ein furchterregender Gedanke, bei genauer Betrachtung. Ich habe Ihnen das Bild von bevorstehendem Elend aufgezeigt.« Auf dem Bildschirm erschien Dorés Lithografie. »Ich habe Sie an die furchtbaren Folgen von unkontrolliertem Bevölkerungswachstum erinnert.« Er deutete auf den kleinen Stapel von Papierschnipseln. »Ich habe Sie darüber aufgeklärt, dass wir am Rand des spirituellen Zusammenbruchs stehen.« Er hielt inne und drehte sich zu Elizabeth um. »Und was ist Ihre Antwort? Kostenlose Kondome in Afrika.« Er schnaubte verächtlich. »Das ist, als würde man versuchen, einen heranrasenden Asteroiden mit einer Fliegenklatsche abzuwehren. Die Zeitbombe tickt nicht länger, sie hat längst gezündet , Doktor, und ohne dramatische Gegenmaßnahmen wird die exponentielle Mathematik unser neuer Gott. Ein furchtbarer, rachsüchtiger Gott, glauben Sie mir! Er wird Dantes Vision der Hölle draußen auf die Park Avenue bringen: dicht gedrängte Massen, die in ihren eigenen Exkrementen suhlen. Ein furchtbares globales Gemetzel, inszeniert von der Natur selbst.«
»Ist das so?«, schnappte Elizabeth. »Dann verraten Sie mir doch: Wie groß ist Ihrer Meinung nach die ideale Bevölkerung für eine nachhaltige Zukunft? Die magische Zahl an Menschen, die sich selbst auf unbestimmte Zeit selbst erhalten kann … in relativem Komfort?«
Der große Mann lächelte; er hatte offensichtlich mit dieser Frage gerechnet. »Jeder
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